Die Belegschaft erarbeitet eine eigene Gehaltsstruktur
Ökofrost ist ein Berliner Großhändler für Bio-Tiefkühlwaren. Das Unternehmen beliefert sowohl bundesweit als auch über die deutschen Grenzen hinaus. Der Umsatz stieg in den letzten Jahren stetig – inzwischen setzt Ökofrost knapp 9 Millionen Euro pro Jahr um.
So schnell das Unternehmen wächst: die Gewinnzone hat es erst vor zwei Jahren erreicht. Deshalb galt jahrelang: wo nicht viel Geld da ist, kann auch nicht viel verteilt werden. Dementsprechend waren die Gehälter der Angestellten bis Ende 2011 eher unterdurchschnittlich. Hinzu kam, dass es zwischen einigen der fünfzehn Mitarbeiter große Gehaltsunterschiede gab. Es war dem Verhandlungsgeschick eines jeden Einzelnen überlassen, an welchem Ende der Gehaltsskala man sich innerhalb des Unternehmens bewegte.
Das blieb innerhalb der Belegschaft nicht unbemerkt. Wie in vielen Firmen unterhielten sich auch einige Ökofrost-Mitarbeiter darüber, was am Ende des Monats auf dem Gehaltszettel steht. Die großen Unterschiede führten zu Unverständnis, tiefer Betroffenheit und Ärger, teils sogar zu Tränen bei einigen Mitarbeitern. Sie setzten ihre schlechtere Bezahlung mit weniger Wertschätzung für ihre Arbeitsleistung gleich.
Der Geschäftsführer von Ökofrost, Florian Gerull, spürte Ende 2011, dass das Brodeln innerhalb der Belegschaft immer größer wurde. Gerull verstand, dass diese negativen Emotionen aufgelöst werden mussten. Bei langen Spaziergängen suchte er nach Lösungen. Der Geschäftsführer kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn machte, alleine im Stillen eine Lösung zurecht zu basteln. Nachdem er selbst in den Monaten zuvor einen inneren Prozess des „Aufwachens“ durchlebt hatte, war aus seiner Sicht auch die Firma bereit für einen Wertewandel.
So entschloss er über die Weihnachtsferien, dass die gesamte Belegschaft an der Suche nach einer guten Lösung für die Gehaltsfrage beteiligt werden sollte. Im Januar lud Gerull zum ersten großen Meeting, bei dem alle Mitarbeiter eingeladen waren – und zu dem auch fast alle erschienen. Ziel der Veranstaltung war es, gemeinsam eine neue Gehaltsstruktur zu finden, mit der alle Mitarbeiter glücklich sein würden. Während des Meetings tauschte sich das ganze Team über Werte und Ziele aus, die wichtig für ein Gehaltsmodell sein sollten. Es wurde viel Zeit investiert, um das vorwiegende Meinungsbild zu Fragen wie „Transparenz gegen Geheimhaltung“ oder „Festgehalt gegen verhandelbare Lohnhöhe“ zu finden. Auch Themen wie Urlaubsgeld (das die Belegschaft, anders als vom Geschäftsführer erwartet, nicht haben wollte), Urlaubsanspruch oder Weiterbildungen wurden ausführlich diskutiert. Am Ende des Workshops hatte Gerull einen guten Eindruck, was seiner Mannschaft wirklich wichtig und was eher unwichtig war.
Der Geschäftsführer plante sich in den folgenden Tagen genügend Zeit ein, um all die Informationen aus dem Workshop in ein kongruentes Modell zu strukturieren. Er nahm sich seinen Coach als Sparringspartner zur Seite, um diesem Modell den Feinschliff zu verleihen und lud zu einer zweiten Teamrunde mit allen Mitarbeitern. Diese bestätigten das neue Gehaltsmodell mit nur wenigen Änderungen. „Da ist ja wirklich alles drin, was wir uns im Workshop gewünscht haben. So etwas hab ich noch nie erlebt“, freute sich eine Mitarbeiterin. Bevor der Chef das Modell jedoch tatsächlich in Kraft setzen konnte, mussten die Gesellschafter es noch absegnen – schließlich war es ihr Gewinn, der sich schmälern würde, wenn die Mitarbeiter teilweise deutlich mehr Geld bekommen sollten. Nach ausführlicher Erläuterung von Sinn und Vorteilen des neuen Modells konnte aber in kurzer Zeit die Zustimmung dieses entscheidenden Gremiums gewonnen werden.
Nach einer erfolgreichen Bestätigung des neuen Gehaltsmodells Ende Januar 2012 wurde die neue Gehaltsstruktur rückwirkend zum 1. Januar 2012 wirksam. Bei den Einzelgesprächen zur neuen Gehaltsstruktur gab es wieder Tränen – doch dieses Mal Tränen der Freude. Einige Mitarbeiter erhalten nun deutlich mehr Gehalt als vorher. Und selbst die beiden Mitarbeiter, die an dem Prozess nicht teilnahmen, weil sie über ihre bislang vergleichsweise niedrigen Gehälter sehr enttäuscht waren, sind inzwischen sehr zufrieden mit dem Gesamtergebnis, das der Chef mit ihren Kollegen im Schnelldurchlauf erarbeitet hat. „Die Wunden aus der Vergangenheit wurden geschlossen“, schrieb uns einer der Beiden.
Am Ende des Jahres 2012 werden sich alle Beteiligten bei Ökofrost noch einmal zusammensetzen und überprüfen, ob die neue Lösung tatsächlich für jeden passt. Auf Nachfrage durch uns bekamen wir von den Mitarbeitern jetzt bereits Antworten wie: „Es war mir wichtig, die Standpunkte und Meinungen der anderen zu erfahren und sie dadurch näher kennen zu lernen. In der Diskussion kamen wir immer wieder an den Punkt „Werte“ und welche weitere Faktoren – neben einem fairen Gehalt – noch eine Rolle für die Zufriedenheit eines jeden spielen.“ oder „Mich bestätigt diese Entwicklung darin, dass der Glaube und das Festhalten an Ökofrost, das lange Kämpfen und Warten sich gelohnt haben und richtig war.“
Uns gefällt dieses Beispiel, da es aufzeigt, wie wichtig das Bedürfnis nach Gestaltbarkeit auch in unternehmerischen Prozessen ist, um aus einem ungesunden in einen gesunden Zustand zu gelangen. Aaron Antonovsky benennt neben der Sinnhaftigkeit und Verstehbarkeit auch die Gestaltbarkeit (die wir hier bei Ökofrost sehen) als einen wichtigen Grundfaktor in seinem Modell der Salutogenese – der Wissenschaft des „Was gesund macht“.
Webseite: www.oekofrost.de