Würde in der digitalen Welt

Dieser Text erschien zuerst im business bestseller Verlag

In welcher Welt leben wir? 

Wir sind im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung angekommen und die in der westlichen Welt entwickelten Vorstellungen davon, worauf es im Leben ankommt, haben sich weltweit ausgebreitet. Überall auf der Welt orientieren sich die Menschen nicht nur an unserem Lebensstil, sie folgen auch den unserem Wirtschaftssystem zugrundeliegenden Vorstellungen. Sie glauben ebenso wie wir, dass es ohne Wettbewerb keine Weiterentwicklung geben kann. Sie folgen der Ideologie eines unbegrenzten Wachstums und erwarten die Lösung aller Probleme durch wissenschaftlich-technische Innovationen. Und es fällt ihnen ebenso schwer wie uns, ihren Blick dafür zu öffnen und zu erkennen, dass wir mit eben diesen Vorstellungen dabei sind, unseren kleinen blauen Planeten zu ruinieren. Noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte war das so offenkundig erkennbar wie jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Erstmals eröffnet sich damit eine Perspektive, die unvermeidbar zu der entscheidenden Frage führt, was uns Menschen – trotz unserer unterschiedlichen Herkünfte, Erfahrungen und kulturellen Eingebundenheit – miteinander verbindet. Auch das kann nur eine von Menschen entwickelte Vorstellung sein, aber eine, die alle Menschen nicht nur trotz, sondern aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit miteinander teilen. Keine Ideologie, keine Religion, keine ethische oder moralische Wertvorstellung ist dafür geeignet. Die einzige, alle Menschen in all ihrer Verschiedenheit verbindende gemeinsame Vorstellung kann nur die von ihnen selbst gemachte Erkenntnis ihrer eigenen Würde sein. Das zutiefst Menschliche in uns selbst zu entdecken, wird somit zur wichtigsten Aufgabe im 21. Jahrhundert. 

Als Goethe im Faust das mit dem Herzen sehende Gretchen ihren von Mephisto verführten Geliebten fragen ließ: „Wie hältst Du’s mit der Religion?“ war das Leben nicht nur in und um Weimar herum noch recht gut überschaubar. Wer damals von Religion sprach, meinte das Christentum. Geistliche und weltliche Herrscher bestimmten, was erlaubt und was verboten war. Das Zusammenleben der Menschen war bestimmt von historisch gewachsenen sozialen Ordnungen. Und die hielten die meisten für gottgegeben und damit unveränderbar. Für freie Geister wie diesen Dr. Faustus, war eine solche Welt schon damals viel zu eng. Er wollte wissen, was sie im Innersten zusammenhält. Deshalb hatte er ja diesen fatalen Packt mit dem Teufel geschlossen.

Heute leben wir in einer von dieser geistigen Enge befreiten, globalisierten, digitalisierten  und rund um den Globus vernetzten Welt. So steht es jedenfalls in den Zeitungen. Unsere Möglichkeiten haben sich immens erweitert, aber unser Zusammenleben ist dadurch nicht einfacher geworden. Vieles, was früher noch klar geregelt war, ist unübersichtlich geworden und durcheinander gekommen. „Fack ju Göhte“, einer der erfolgreichsten Kinofilme der letzten Jahre, macht das auf eindringliche Weise deutlich. Und die Schule ist ja immer ein Abbild der jeweiligen Beschaffenheit einer Gesellschaft.

Wie viele Menschen können mit der Gretchenfrage heute überhaupt noch etwas anfangen? Manche verstehen nicht genug Deutsch. Manche wissen nicht, was mit dem gemeint ist, was sie dazu auf Wikipedia finden. Manche fragen auch berechtigterweise zurück, welche Religion denn hier von diesem Gretchen gemeint sei. Was den vom Forschergeist besessenen Faust damals noch etwas irritiert hatte, stößt heute bei den meisten Menschen auf schulterzuckendes Unverständnis. Sogar viele Christen tun sich schwer mit einer klaren Antwort. Die Welt ist für so einfache Fragen ganz offenbar zu kompliziert geworden.

Vielleicht hat der Dalai Lama deshalb unlängst vorgeschlagen, der Ethik einen höheren Stellenwert einzuräumen als der Religion. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, eine über alle Religionen hinausreichende und in allen Religionen enthaltene ethische Dimension zur Grundlage unseres künftigen menschlichen Zusammenlebens machen zu können.

Aber sind ethische oder auch moralische Maßstäbe hierfür wirklich geeignet? Wird nicht das, was die Menschen in dem einen Kulturkreis als ethisch korrekt und moralisch rechtens betrachten, in einem anderen Kulturkreis ganz anders bewertet? Waren die jeweiligen ethischen und moralischen Vorstellungen nicht schon immer von dem bestimmt, was die Mehrzahl der Mitglieder einer Gemeinschaft für richtig und notwendig hielt? Und das war ja niemals überall gleich und hat sich auch bei uns immer wieder verändert. Die Nazis hatten auch eine Moral und eine Ethik, aber das war eine andere als jene, die wir heute für akzeptabel halten. Und die ethischen und moralischen Werte, die von den Anhängern des gegenwärtigen US-amerikanischen Präsidenten vertreten werden, möchten die meisten hier bei uns wohl kaum zur Grundlage ihres Handelns machen.

Wer hat diese Welt so gemacht?

Aber als soziale Wesen können wir die in uns angelegten Potentiale nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen entfalten. Wir brauchen die Anderen, um von ihnen zu lernen, um uns mit ihnen auszutauschen, um uns aneinander und miteinander weiterzuentwickeln. Weil unser menschliches Gehirn so stark durch die jeweiligen individuellen Erfahrungen geprägt wird, die wir im Verlauf unseres Leben machen, ist jeder Mensch einzigartig. Aus diesem Grund sind wir alle so verschieden, und die daraus erwachsenden unterschiedlichen Interessen einzelner Personen oder auch einzelner Gruppen nur schwer unter einen Hut zu bekommen. Deshalb müssen wir eine eine soziale Ordnungsstruktur entwickeln, die uns hilft unser Zusammenleben nicht nur einigermaßen erträglich, sondern auch fruchtbar zu machen. Gewährleistet wurde das bisher über Jahrtausende hinweg durch schon zu biblischen Zeiten herausgebildete hierarchische Ordnungen. Sie haben sich bewährt und sich deshalb auch in alle gesellschaftlichen Bereiche ausgebreitet. Familien, Unternehmen, das Militär sowieso, aber sogar die Kirchen waren und sind zum Teil noch bis heute hierarchisch organisiert. Wir finden das ganz normal. Ohne diese soziale Ordnungsstruktur hätten wir als Gemeinschaften wohl auch kaum überleben, mit Sicherheit aber keine Kriege führen und unser Hab und Gut vor Angreifern verteidigen können. 

Aber diese hierarchischen Ordnungen haben einen interessanten Nebeneffekt. In allen diesen Hierarchien strengen sich diejenigen, die weiter unten stehen, ständig und sehr beharrlich an, um auf der Stufenleiter weiter nach Oben zu kommen. Sie leisten etwas, sie entdecken etwas, sie erfinden etwas – kurz: Sie bringen ständig etwas Neues in die Welt. Dabei handelt es sich nicht nur um neues Wissen, um Entdeckungen und Erfindungen sondern auch um innovative Technologien. All das wird dann von anderen übernommen und breitet sich in der Gesellschaft aus. Zwangsläufig wird aber dadurch die Lebenswelt der Menschen zunehmend komplexer – bis schließlich ihr Zusammenleben durch diese bis dahin so gut funktionierenden hierarchischen Ordnungen nicht mehr steuerbar ist. Genau an diesem Punkt sind wir gegenwärtig in unserer vernetzten, globalisierten und digitalisierten Welt angekommen. Das in allen Hierarchien angelegte Aufstiegsstreben macht die Welt also solange immer komplexer, bis sich unser Zusammenleben schließlich nicht mehr durch hierarchische Ordnungsstrukturen regeln lässt. Erneut läßt Goethe grüßen, diesmal mit dem Gedicht vom Zauberlehrling.

Nun wird aber auch verständlich, weshalb sich so viele verunsicherte Menschen zu Wort melden und Gruppierungen bilden, die sich eine Wiederherstellung dieser alten, verloren gegangenen Ordnung wünschen. Aber die Wiederherstellung einer Hierarchie kann ja nur dann funktionieren, wenn wir unsere Welt wieder so einfach und überschaubar machen, wie sie einmal war. Das ließe sich beispielsweise durch einen möglichst zerstörerischen Krieg erreichen. Wenn wir das vermeiden wollen, bleibt uns nur die Möglichkeit, uns gegenseitig und über alle Grenzen hinweg dabei zu helfen, uns dessen bewusst zu werden, was unser eigentliches Menschsein ausmacht. Wir müssten einander also ermutigen, in uns selbst so etwas wie einen inneren Kompass zu entwickeln und zu stärken, der uns Orientierung für die Gestaltung eines menschenwürdigen Zusammenlebens bietet. Und zwar ohne dass uns jemand „von da Oben“ sagt, wie wir uns zu verhalten, was wir zu tun und zu lassen haben, damit unser Zusammenleben einigermaßen funktioniert. 

Läßt sich die Art und Weise unseres Zusammenlebens verändern?

Auf der gesellschaftlichen Entwicklungsstufe, auf der wir inzwischen angekommen sind, bleibt uns nun wohl nicht anderes übrig, als zu der Einsicht zu kommen, dass es bei der Gestaltung unseres Lebens und unseres Zusammenlebens mit anderen Menschen, auch mit anderen Lebewesen, nur um eines gehen kann: um die Wahrung unserer eigenen Würde. Denn wer sich seiner eigenen Würde bewusst geworden ist, kann die Würde anderer auch nicht mehr verletzten. So jemand stellt sich anderen nicht mehr als Objekt für die Verfolgung von deren Interessen zur Verfügung. Solche Menschen sind dann auch nicht mehr verführbar. Und sie machen auch keinen anderen zum Objekt ihrer Interessen und Absichten, ihrer Erwartungen und Bewertungen, ihrer Belehrungen und Maßnahmen. Das wäre unter ihrer Würde.

Wie halten Sie es mit Ihrer Würde? Ist das, was Sie tagtäglich tun und wie Sie Ihr Zusammenleben mit anderen Menschen gestalten, mit der Vorstellung Ihrer eigenen Würde vereinbar? Das ist die Frage, die Gerald Hüther an die Leser seines Buches richtet. Seine persönliche Antwort lautet: „Ich versuche es und ich werde es jeden Tag weiter versuchen, auch wenn es mir nicht – noch nicht – immer gelingt.“ Ganz allein und inmitten all der Würdelosigkeiten, die unser Zusammenleben in so vielen Bereichen bestimmen, ist das nicht so leicht. Deshalb hat er im Rahmen der Akademie für Potentialentfaltung eine Initiative gestartet, die den Aufbau von „Würdekompass-Gruppen in möglichst vielen Städten und Gemeinden unterstützt und die Bürger einlädt, sich gemeinsam auf den Weg zu machen, um unser Leben und unser Zusammenleben künftig etwas würdevoller zu gestalten als bisher. Und deshalb begleitet er aus dieser Akademie heraus auch Unternehmen und Organisationen bei der Herausbildung einer Kultur eines würdevollen, einander einladenden, ermutigenden und inspirierenden Umgangs aller Beteiligten, auch der Führungskräfte.     

Was hat die Würde mit Neurobiologie zu tun?

Wer von Würde redet, denkt an unser Grundgesetz. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Damit gibt sich Hüther aber nicht zufrieden und fragt weioter: „Wie kann jemand sein Würde bewahren, wenn er sich ihrer gar nicht bewußt ist, ja nicht einmal eine Vorstellung davon hat, dass er eine eigene Würde besitzt?“ Die Würde mag gottgegeben oder eine allgemein akzeptierte Übereinkunft sein, aber die
Herausbildung der Vorstellung und des Bewußtseins einer eigenen Würde, ist ein Prozess, in dessen Verlauf es zur Stabilisierung entsprechender Netzwerkstrukturen im Gehirn kommt, sagt Hüther. Und dieser Entwicklungsprozess läßt sich beschreiben, untersuchen und beeinflussen. Und er ist auch kein Selbstläufer. Damit er ablaufen kann, braucht ein Mensch, möglichst von Anfang an die Erfahrung, das sie oder er erwünscht, und wertvoll ist, geachtet und wertgeschätzt wird. Anders geht es nicht, und von allein schon gar nicht. Und genau das steht nicht im Grundgesetz.

Um zu verstehen, wie die Vorstellung der eigenen Würde im Hirn verankert wird, macht Hüther etwas deutlich, das bisher in den Forschungsansätzen der Neurobiologen keine Rolle gespielt hat: der 2. Hauptsatz der Thermodynamik. Unser Gehirn verbraucht bereits im Ruhezustand, also wenn wir flachliegen und vor uns hindösen gut 20 Prozent der zur Verfügung stehenden Energie. Sobald wir durch einen äußeren Stimulus dabei gestört werden, womöglich gar ein Problem haben nachzudenken und nach einer Lösung zu suchen beginnen, steigt der Energieverbrauch in den dabei aktivierten Hirnbereichen dramatisch an. Dann geht es uns nicht mehr so gut und es wir Zeit dass wir eine Lösung finden, sonst fliegt uns das System – gemäß dem 2. Hauptsatz – buchstäblich um die Ohren, es wird instabil. .Das Gehirn reguliert das, indem es gewisse Dinge einfach ausblendet oder Handlungsabläufe automatisiert – Komplexitätsreduktion, so der Fachbegriff dafür. 

Aber das und viele andere Lösungen, die ins einfallen, um das energieaufwändige Durcheinander im Gehirn zu reduzieren bietet keine dauerhafte Lösung. Im Gegenteil: «Wir stürzen von einer Krise in die nächste, verbrauchen immer mehr Energie, plündern die natürlichen Ressourcen unseres Planeten und haben keine Ahnung, wie irgendeine Ordnung in das von uns angerichtete Durcheinander kommen soll. Stattdessen machen sich die ersten fertig für einen Flug zum Mars», resümiert der Autor.

Wie kann die Wahrung der eigenen Würde als Richtschnur dienen?

Was es braucht, ist laut Hüther eine Art innerer Kompass. Etwas, das wir im Laufe unseres Lebens entwickeln, um nicht die Orientierung zu verlieren und nicht allen Heilsversprechen nachzulaufen, die von außen an uns herangetragen werden. Als Neurobiologe bezeichnet er es als ein «in dieser Situation aktiv werdendes neuronales Verschaltungsmuster, das sehr eng an die Vorstellung der eigenen Identität gekoppelt ist und damit zwangsläufig auch sehr stark mit emotionalen Netzwerken verknüpft ist.» 

Anders formuliert, geht es um die Frage, wer wir sein wollen. Dies setzt Hüther mit dem gleich, was wir in unserer Sprache mit der Vorstellung unserer eigenen Würde bezeichnen. Etwas, woran wir uns stets orientieren können, wenn wir etwas denken, sagen oder tun, was handlungsbestimmend ist. Was uns auf diese Weise vor dem Durcheinander im Kopf schützt und damit den Energieverbrauch reduziert.

Wie entsteht eine Vorstellung und ein Bewußtsein der eigenen Würde?

Die mit Abstand wichtigsten Erfahrungen, die wir Menschen im Lauf unseres Lebens machen, sind Erfahrungen, die aus dem Zusammenleben mit anderen Menschen erwachsen. Manche dieser Erfahrungen sind hilfreich und wertvoll und tragen dazu bei,  die in uns angelegten Potentiale schrittweise entfalten zu können. Andere sind aber auch schmerzhaft und belastend. Wir spüren, dass sie uns nicht guttun, und würden sie lieber vermeiden. Aus diesen positiven wie auch negativen Erfahrungen, die wir in unseren Beziehungen zu anderen Menschen machen, entsteht im Gehirn ein inneres Bild, eine Vorstellung davon, wie Menschen ihre Beziehungen und ihr Zusammenleben gestalten müssten, damit uns derartige leidvolle Erfahrungen im Umgang miteinander erspart bleiben. Wenn es uns gelingt, diese Vorstellung mit der Vorstellung unserer jeweiligen Identität zu verknüpfen, entsteht in unserem Hirn dieses besondere Metakonzept, dieses innere Bild, das wir mit dem Begriff und der Vorstellung unserer Würde verbinden.

Was jeder Mensch mit seiner Geburt bereits mit auf die Welt bringt, ist ein Empfinden für die Würde. Jedes Kind will dazugehören, es will gesehen werden und es will lernen, wie das Leben geht. Solange Kinder dieses Bedürfnis in sich spüren, finden sie auch Mittel und Wege, es zu verwirklichen. Allerdings haben nicht alle das Glück, ihre eigene Bedeutsamkeit und ihr vorbehaltloses Angenommensein in den strahlenden Augen ihrer Mütter oder Väter auch noch dann zu spüren, wenn deren Anfangsfreude über den Neuankömmling verflogen und der familiäre Alltagstrott wieder eingekehrt ist. 

Nicht alle Kinder machen die Erfahrung, bedingungslos und um ihrer selbst Willen geliebt zu werden. Sie wissen noch nicht, weshalb das so ist und was es bedeutet, wenn ihre Würde verletzt wird. Sie können es nur spüren. 

Alles, was sie im Verlauf ihrer ersten zwei Lebensjahre ausprobieren und lernen, ist ihnen Ansporn, Ermutigung und Inspiration für jeden weiteren Entwicklungsschritt. Krabbeln, Laufen, Sprechen, Singen, Tanzen und alles andere lernen sie ja deshalb auch von ganz allein, aus sich selbst heraus. Weil sie es lernen wollen. Deshalb schauen sie anderen, die all das schon können, auch so aufmerksam zu. 

Mit bewundernswerter Beharrlichkeit probieren sie anschließend all das so lange selbst aus, bis es endlich klappt. Beim Abwaschen helfen, im Garten mitarbeiten, Äpfel pflücken und das Auto reparieren – überall wollen sie dabei sein. Dazugehören. Mitmachen. Wie später nie wieder erleben sich die meisten Kinder in diesen ersten Lebensjahren als Akteure, als Gestalter nicht nur ihres eigenen Lebens, sondern auch ihres Zusammenlebens mit anderen Personen.

Was dabei in ihrem Gehirn gestärkt wird, ist nun aber nicht länger nur ihr bereits mit auf die Welt gebrachtes Empfinden für das, was sie brauchen und was für sie gut ist. Die für diese anfängliche Empfindung verantwortlichen neuronalen Verschaltungsmuster werden nun durch ihre eigenen Erfahrungen ganz entscheidend verstärkt, erweitert und auch präzisiert. Was dadurch im Gehirn verankert wird, ist deshalb keine bloße Empfindung mehr, sondern eine als handelndes Subjekt gemachte eigene Erfahrung. Sie bildet das Fundament, für das, was die Psychologen Selbstwirksamkeit oder noch treffender das Erleben der eigenen Subjekthaftigkeit nennen. Und dieses Erleben ist während der frühen Kindheitsphase immer an die das Kind begleitenden anderen Personen gebunden, eingebunden in die Gemeinschaft, mit der es sich verbunden fühlt. Es wird ihm erst ermöglicht durch seine eigene Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft und die ihm von deren Mitgliedern entgegengebrachte Zuwendung, Unterstützung und Ermutigung.

Wenn so kleine Kinder schon imstande wären, diese wichtigste Anfangserfahrung ihres Lebens mit Worten zu beschreiben, so würden sie wohl alle sagen, dass sie in dieser Lebensphase erstmals erahnt haben, was es heißt, ein Mensch zu sein. Diese am eigenen Leib gemachte Erfahrung wird im Gehirn als neuronales Netzwerk verankert. Unter günstigen Umständen kann es sich zu einem komplexen Verschaltungsmuster weiterentwickelt und zur strukturellen Grundlage dessen werden, was wir als Vorstellung und schließlich als das Bewusstsein der Würde eines Menschen bezeichnen.

Personen, die das Glück hatten, sich auf diese Weise ihrer Würde erstmals bewusst zu werden, beschreiben dieses Erleben als eine außerordentlich tiefreichende Wiederentdeckung ihrer eigenen Gestaltungskraft und eines längst verloren geglaubten Verbundenheitsgefühls mit anderen Menschen, meist auch mit anderen Lebewesen. Auf diesem Gefühl untrennbarer Verbundenheit erwächst in ihnen zwangsläufig auch das Bedürfnis, in Zukunft Verantwortung für sich selbst und ihr Handeln zu übernehmen. Deshalb können Menschen, die sich ihrer eigenen Würde bewusst geworden sind, nicht länger so weiterleben wie bisher. Andere Personen spüren das, auf sie wirken solche Menschen tiefgreifend verändert. Sie verhalten sich achtsamer, zugewandter, liebevoller, sie ruhen stärker in sich selbst und strahlen diese Ruhe auch auf andere aus. Sie lassen sich nicht mehr antreiben und sind auch nicht mehr verführbar. Wer solchen Menschen begegnet, hat das Gefühl, sie hätten einen inneren Kompass gefunden, dem sie sich anvertrauen und der sie durchs Leben führt. Nicht irgendwie, sondern in Würde. Nicht irgendwohin, sondern hin zu gelebter Menschlichkeit.

 Diese Bewusstwerdung der eigenen Würde ist der entscheidende Schritt in die Freiheit, ein Akt der Emanzipation, nicht als Frau oder als Mann, sondern als Mensch.

Wie können wir unsere eigene Würde wiederentdecken?

Die wenigsten Kinder hatten oder haben das Glück, in ihrer Subjekthaftigkeit gesehen, oder anders ausgedrückt, um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Sie wissen auch noch nicht, dass es ihre Würde ist, die entweder gestärkt oder verletzt wird, wenn andere versuchen „etwas aus ihnen zu machen“, aber ihre ersten Empfindungen werden durch diese eigenen Erfahrungen geprägt. 

Selbst wenn die Eltern oder nähere Bezugspersonen alles richtig machen, bleiben den Kindern schmerzhafte Erfahrungen in einer Ich-bezogene Gesellschaft, die durch Leistungsdruck und Konkurrenz geprägt ist und in der Menschen sich gegenseitig zu Objekten ihrer jeweiligen Bedürfnisse und Absichten machen, nicht erspart. Kinder reagieren darauf, indem sie diese Praxis irgendwann einfach übernehmen. Der Preis ist, dass sie gegen ihre eigenen Empfindungen und Bedürfnisse handeln müssen. Dass sie entgegen ihrer ursprünglichen Anlage selbst ebenfalls würdelos handeln und ihr Grundbedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit unterdrücken müssen. Oder sie erklären sich selbst für unzulänglich, machen sich alöso selbst zum zum Objekt nun sogar ihrer eigenen Bewertungen.

Nur wenige haben das Glück, an jemanden zu geraten, der sich seiner eigenen Würde bewusst ist und dementsprechend auch handelt. Wünschenswert wäre, dass solche Menschen in ihrem Tun und Wirken deutlicher hervortreten und sichtbar werden. Leider sind jene, die sich ihrer eigenen Würde bereits bewusst sind und in der Lage wären, die Zustände zu verändern, in der Öffentlichkeit eher zurückhaltend. Sie gehören selten zu denen, die lautstark ihre Meinung vertreten. Sie agieren eher im Hintergrund. Aber das reicht eben oft nicht und so rollt das Band weiter und spuckt am Ende brave Bürger und Verbraucher oder Menschen aus, die Meister darin sind, andere Personen so zu behandeln als seien sie Objekte.

Deshalb müßten all jene Personen, die sich ihrer Würde bewusst sind, deutlich lauter werden und das, was sie für sich entdeckt haben, anderen vorleben und mit anderen teilen. Nicht als Vorgabe oder Maßnahme, sondern aus dem Herzen heraus. Tatsächlich geht ja von Menschen, die sich ihrer Würde bewußt sind und würdevoll handeln, eine unglaubliche Anziehung aus.

Und sie können ja auch Antwort auf die entscheidenden Lebensfragen geben: Wozu bin ich in dieser Welt, wofür möchte ich das Leben einsetzen, das mit geschenkt worden ist? Was für ein Mensch möchte ich sein? „Es geht es also um die Frage, in welche Richtung wir uns weiterentwickeln wollen. Und um die zu beantworten, brauchen wir dringender denn je diesen inneren Kompass in Form einer Vorstellung und eines Bewusstseins dessen, was uns als Menschen ausmacht.»

Schon die Bibel beschreibt die Wandlung vom rücksichtslosen, egoistischen Saulus in den Apostel Paulus. Aktueller ist die Rückbesinnung auf die eigene Würde bei manchen Börsenspekulanten nach der Lehman-Pleite und Finanzkrise. Einige, die von heute auf morgen ihre wichtigen Positionen verloren, machten einen Neustart, sie gründeten Kindergärten, kümmerten sich um Obdachlose oder wurden Lehrer. 

Aber es muß nicht immer eine existenzielle Krise sein, die zum Auslöser für eine Rückbesinnung auf die eigene Würde wird. Manchmal reicht dafür schon die Begegnung eines selbstgefälligen Managers mit einem Mitarbeiter, der seine Würde bewahrt hat. Oder eine tiefe innere Berührung, wie sie bisweilen beim Besuch eines Theaterstücks oder eines Filmes geschieht, oder beim Hören eines besonderen Musikstückes, beim Lesen eines ergreifenden Buches, und manchmal als Ergebnis einer tiefen Naturerfahrung.

Wofür können wir uns entscheiden?

Wir alle wissen, dass es so nicht weitergehen kann. Irgendwann bestimmt der Kampf um die letzten Ressourcen unser Sein, irgendwann kippt das Klima endgültig, so dass weite Teile der Erde unbewohnbar sind. Irgendwann wird alles zusammenbrechen. Die Erde mit ihrer Natur wird das wenig kümmern. Sie lässt buchstäblich Gras über die Sache wachsen und wir können vielleicht auf einen anderen Planeten «auswandern», wie einige es schon planen. Aber was, wenn wir diesen dann besiedelt haben und einfach weitermachen wie bisher? Dann wird es nicht lange dauern, bis wir wieder genau an dem Punkt ankommen, an dem wir jetzt stehen. 

Anders zu leben als bisher, bedarf einer Entscheidung. Einen Versuch wäre es allemal wert, denn am Ende profitiert der Mensch nicht nur selbst davon, sondern es ist ein Gewinn für die ganze Gemeinschaft. Dabei ist es nicht notwendig, etwas über den Zaun zu brechen, oder gleich wieder einen effizienten Maßnahmenkatalog aufzustellen. Was das Bemühen um die Wahrung der eigenen Würde vermag, zeigt sich oft in den kleinen Gesten des Alltags – sei es, jemanden anzulächeln, statt an ihm vorbei zu hasten oder andere zu ermutigen, statt ihnen zu sagen, was sie zu tun haben. Unser Leben, so schließt der Autor Gerald Hüther, würde «spürbar freudvoller, liebevoller, auch weniger anstrengend». Und wir würden unglaubliche Reibungsverluste vermeiden und eine
Unmenge Energie sparen. Nicht nur körperlich als Einzelne, sondern alle zusammen als Gemeinschaft auf diesem Planeten.