Wie gehirngerechte Führung funktioniert

Original von Gerald Hüther, erschienen im managerSeminare Magazin
Mit freundlicher Genehmigung der managerSeminare Verlags GmbH

Mit der Vielfalt neuer Ideen, die ein Unternehmen hervorbringt, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es erfolgreich ist. Umgekehrt gibt die Innovationskraft einer Organisation wie ein Seismograph Auskunft über deren inneren Zustand. Ein Unternehmen ist in dieser Hinsicht wie ein menschliches Gehirn: Hier wie dort offenbart ein magerer Ideenoutput, dass es an Neugier, Begeisterungsfähigkeit und Gestaltungslust fehlt. Und so wie es Gehirne gibt, in denen die Kommunikation zwischen rechter und linker Hemisphäre und zwischen „oben“ und „unten“ nicht recht gelingt, gibt es auch Unternehmen mit entsprechenden Blockaden. Solche Unternehmen mögen gewisse Zeit überleben. Lebendig, kreativ und innovativ sind sie nicht – und damit höchstwahrscheinlich auch nicht zukunftsfähig.

Unternehmen, die langfristig erfolgreich sind, gleichen dagegen zeitlebens lernfähigen Gehirnen: Sie lernen durch Versuch und Irrtum, sammeln Erfahrungen, entwickeln flache, stark vernetzte Strukturen und passen ihre innere Organisation immer wieder neu an sich verändernde Rahmenbedingungen an. Durch sich selbst optimierende kommunikative Vernetzungen auf und zwischen den Organisationsebenen gelingt es ihnen, rasch, umsichtig und nachhaltig auf neue Herausforderungen zu reagieren.

Das Gehirn dürstet nach neuen Herausforderungen

Unternehmen, die einem gut funktionierenden Gehirn gleichen, bieten – andersherum betrachtet – menschlichen Gehirnen auch optimale Voraussetzungen, um gut zu funktionieren. Denn damit ein Mitarbeiter Innovationsgeist entwickeln kann, braucht er das richtige Umfeld. Auch wenn sich bis heute schlecht untersuchen lässt, was Kreativität eigentlich ist, so lassen sich inzwischen doch einige neurobiologische Voraussetzungen und äußere Bedingungen beschreiben, die für das Zustandekommen kreativer Leistungen erfüllt sein müssen.

Aus neurobiologischer Sicht ist das menschliche Gehirn nicht zum Abarbeiten von Routinen, sondern für kreatives Problemlösen optimiert. Da sich die Verschaltungsmuster der Nervenzellen – je nachdem wie sie genutzt werden – entweder erweitern und festigen oder aber verkümmern und auflösen, braucht das Gehirn immer wieder neue andersartige Herausforderungen, damit es nicht in eingefahrenen Routinebahnen stecken bleibt. Es braucht neue Probleme, die unter die Haut gehen, weil sie wichtig erscheinen, und die sich auf den eingefahrenen Bahnen des Denkens nicht lösen lassen.

Ist das Gehirn mit solch einer Herausforderung konfrontiert, entsteht in seinen komplexen Nervenfasernetzen eine Erregung (Arousal), die sich ausbreitet, auf tiefer liegende ältere Bereiche des Gehirns überspringt und dort eine emotionale Aktivierung auslöst. Um diese emotionale Erregung wieder zu beruhigen, fängt das Hirn an, ernsthaft nach einer Lösung zu suchen.

Ideen sind das Ergebnis neu verschalteten alten Wissens

Die Lösungssuche gelingt im kreativen Prozess dann, wenn im Gehirn gleichzeitig möglichst viele „Schachteln“ aufgemacht werden. Mithilfe bildgebender Verfahren (funktionelle Magnetresonanztomographie) lässt sich beobachten, dass im Gehirn eines kreativen Menschen, der gerade einem Gedanken folgt oder ein Problem löst, gleichzeitig viele und weit voneinander entfernt liegende neuronale Netzwerke aktiviert werden. Zahlreiche bisher voneinander getrennt abgelegte Wissens- und Gedächtnisinhalte werden also gleichzeitig wachgerufen. Und die regionalen neuronalen Netzwerke, die für die Aktivierung dieser Inhalte erforderlich sind, werden auf eine neue Weise miteinander verknüpft.

Kreativ sein heißt demnach nicht in erster Linie, Neues zu erfinden, sondern das bereits vorhandene, aber bisher voneinander getrennte Wissen auf eine neue Weise miteinander zu verbinden. Wer nicht viel weiß, kann daher nur innerhalb dieser engen Wissensgrenzen kreativ sein. Aber umgekehrt ist besonders viel auswendig gelerntes Wissen auch kein Garant für außerordentliche Kreativität. Damit ein kreativer Prozess gelingt, muss man zum einen über ein möglichst reichhaltiges Spektrum unterschiedlicher Erfahrungen verfügen und zum anderen spielerisch mit diesem gespeicherten Wissen umgehen können.

Eine gute Idee berauscht das Gehirn wie eine Droge

Wenn einem eine gescheite Lösung einfällt, wird die Nervenzellverschaltung, die zu dieser Lösung geführt hat, als neue Erfahrung ins Hirn „eingebrannt“. Die dafür erforderliche „Hitze“ wird von einem Mix an Botenstoffen erzeugt, die neuroplastische Wirkungen besitzen. Das heißt: Sie veranlassen die Zellen dazu, ihre Verbindungen zu festigen und zu stabilisieren. Zudem wird das so genannte Belohnungssystem aktiviert. Die emotionalen Zentren im limbischen System des Gehirns kommen in Erregung und setzen an den Enden ihrer Nervenzellfortsätze, die in die höheren Hirnbereiche ragen, Botenstoffe frei. Diese versetzen das Hirn in einen Zustand, als hätte man gleichzeitig eine kleine Dosis Heroin und Kokain eingenommen.

Je öfter man diesen Zustand erlebt, desto größer wird die innere Bereitschaft zum und die Lust am Entdecken und Gestalten. Bei Kindern ist diese Bereitschaft besonders stark ausgeprägt, weil sie den Kick besonders häufig erleben. Je besser man allerdings im Lauf des Lebens lernt, sich in der Welt zurechtzufinden, desto stärker gerät auch das Denken in eingefahrene Bahnen. So schwindet mit dem Älterwerden oft die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. Gleichwohl kann sie – durch die richtigen Rahmenbedingungen und Anreize – nicht nur erhalten bleiben, sondern auch wiedererweckt werden. Leider aber ist es um diese Anreize im Arbeitsleben häufig schlecht bestellt.

Führungskräfte sind Meister im Unterdrücken von Kreativität

Überall dort, wo versucht wird, vorhandene Ressourcen bis zum Letzten auszunutzen, wo Angst geschürt, Druck gemacht, genau vorgeschrieben und kontrolliert wird, wo Mitdenken nicht wertgeschätzt und Verantwortung nicht übertragen wird, werden die kreativen Potenziale der Mitarbeiter nicht nur übersehen. Sie werden unterdrückt. Persönliches Engagement und intrinsische Motivation der Mitarbeiter schwinden dahin. Kreativität und Flexibilität, Sorgfalt und Verantwortungsgefühl verkümmern leider schneller als viele Führungskräfte meinen. Es ist ein Prozess, der sich auf drei Ebenen vollzieht:

1. Gewohnheit und der Leerlauf des Neugiersystems

Da es zumindest eine Zeitlang für jeden Menschen (in den meisten Fällen bis zur Pubertät) genug zu entdecken, zu erleben und erfolgreich zu gestalten gab, beginnt jeder Mensch sein Leben als Erwachsener mit einem (mehr oder weniger großen) „Überschuss“ an Neugier, An-trieb und Zuversicht. Wenn dieses Potenzial jedoch nicht hinreichend genutzt werden kann, kommt es anfänglich zu so genannten „Leerlaufhandlungen“, die dann zunehmend in Frustrationshaltungen und Resignation übergehen. Dem Neugier-, Antriebs- und Belohnungssystem fehlen die erforderlichen Wachstumsimpulse und es beginnt zu verkümmern. Ohne entsprechende „Wiedererweckung“ ihrer Entdeckerfreude und Gestaltungslust, ist von solchen Menschen nicht mehr viel Kreativität zu erwarten.

2. Angst und die Aktivierung des Stress-Systems

Angst ist die Folge von Verunsicherung. Sie entsteht als ein durch die Aktivierung der Amygdala im Limbischen System ausgelöstes Gefühl, das mit einer Reihe körperlicher Reaktionen (somatischen Markern) einhergeht. Zur Aktivierung der Amygdala und der betreffenden Körperreaktionen kommt es durch eine sich aufschaukelnde unspezifische Erregung in höheren assoziativen Bereichen des Cortex (präfrontale Rinde), die auf tiefer liegende Bereiche des Limbischen Systems (Amygdala), des Hypothalamus (Nc. paraventricularis) und des Hirnstammes übergreift. Im Verlauf dieser Kaskade von Aktivierungsprozessen kommt es auch zur Erregung so genannter stress-sensitiver Systeme und damit einhergehend zu einer vermehrten Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter (CRF, Katecholamine) und peripherer Stresshormone (Adrenalin, Cortisol).

Es handelt sich hierbei um überlebenssichernde Notfallreaktionen. Die enorme Erregung in den assoziativen Bereichen des Neokortex hat zur Folge, dass bei Angst- und Stresszuständen keine komplexen, handlungsleitenden Erregungsmuster mehr aktivierbar sind. Die jeweiligen Verhaltensreaktionen werden dann durch die unter diesen Bedingungen aktivierten archaischen Notfallprogramme des Hirnstammes bestimmt: Angriff, Flucht oder Erstarrung. Kreative Problemlösungen sind unter solchen Umständen unmöglich.

3. Frustration und die Unterdrückung des Motivationssystems

Man kann keinen Menschen motivieren, sein kreatives Potenzial zu entfalten. Man kann ihn dazu nur einladen, ermutigen, vielleicht auch inspirieren. Die Lust mitzudenken und mitzugestalten lässt sich nicht anordnen oder verordnen. Was man aber schneller und nach-haltiger bewirken kann als einem lieb ist, ist die Unterdrückung dieser Lust. Das menschliche Gehirn ist zeitlebens lernfähig und passt seine innere Organisation an die Art und Weise seiner Nutzung an. Wie und wofür Mitarbeiter ihr Gehirn benutzen, hängt von ihren bisherigen Erfahrungen ab, die implizit auf einer Metaebene (dem Frontalhirn) als innere Einstellungen und Haltungen verankert werden. Machen Mitarbeiter also die Erfahrung, dass ihnen kaum Verantwortung übertragen wird, dass sie unzureichend wertgeschätzt, verängstigt oder unter Druck gesetzt werden, dann hinterlässt das Spuren in ihrem Gehirn. Sie sind frustriert. Und das führt dazu, dass sie die Lust an Engagement und Kreativität verlieren.

Viele Führungskräfte sind gleichwohl immer noch der Überzeugung, Druck und Angst seien die effizientesten Methoden, um kurzfristig maximale Leistung aus Menschen herauszuholen. Das Prinzip funktioniert aber nur so lange, wie der Druck aufrechterhalten wird. Irgendwann wird dann immer mehr Druck notwendig. Das wird auch für den Drücker immer anstrengender. Fatal ist auch: Die durch Druck und Angst erzeugten Gefühle gehen im Gehirn mit bestimmten Erregungsmustern einher. Und weil alle Netzwerke, die dort gleichzeitig aktiviert werden, auch aneinander gekoppelt und miteinander verbunden werden, kann dabei zwangsläufig nur eines herauskommen: nämlich eine negative emotionale Besetzung von allem, was mit der durch Druck erzeugten Leistung zu tun hat. Den Mitarbeitern wird dann schon schlecht, wenn sie morgens wieder in den Betrieb müssen, wenn sie den Chef sehen, wenn sie nur an Arbeit denken.

Schlechte Erfahrungen brennen sich ins Gehirn ein

Wer es als Führungskraft geschafft hat, seine Mitarbeiter in solch eine innere Haltung zu treiben, muss sich aller Wahrscheinlichkeit nach mit ständig steigenden Reibungsverlusten abfinden. Durch unmotivierte, entmutigte, resignierte, nur noch auf ihr eigenes Wohlergehen fokussierte, desinteressierte und jede Veränderung ablehnende Mitarbeiter.

Ist solch eine Haltung erst einmal entwickelt, ist sie nicht durch Argumente, Belehrungen, Bestrafungen und Weiterbildungen veränderbar. Auch nicht durch Belohnungen. Belohnungen – auch ein beliebtes Führungsinstrument – müssen im Lauf der Zeit ebenfalls immer größer werden. In diesen Belohnungs- und Drohungsspiralen verkümmern nicht nur die Potenziale der Mitarbeiter. Auch die Führungskräfte selbst reiben sich auf. Nur eines hilft, der Spirale zu entkommen und negative in positive Haltungen umzuwandeln: eine Führungskunst, die Mitarbeiter zu neuen Erfahrungen einlädt und ermutigt („supportive leadership“).

Das wichtigste Potenzial eines Unternehmens sind deshalb nicht die Mitarbeiter per se, sondern all jene Führungskräfte, die in der Lage sind, ihre Mitarbeiter zur Entfaltung ihrer Potenziale einzuladen, sie zu inspirieren und in ihren Unternehmensbereichen einen kreativen Geist zu wecken, der von Zugehörigkeitsgefühl und Leistungsbereitschaft geprägt ist. In einem supportiven Führungssystem entwickeln Mitarbeiter von sich aus die nötige Selbstdisziplin, um ihre Arbeit gut zu machen. Sie denken mit, gestalten mit, legen Teamgeist und Kreativität an den Tag. Die Führungskraft hat dann auch wieder Zeit, das Unternehmen nach vorne zu bringen. Aber dieser neue Geist wird nicht vom Himmel fallen. Man muss ihn erwecken. Und zwar zunächst im eigenen Kopf.

Vier Regeln für „gehirngerechte“ Führung

Schaffen Sie regelmäßig neue Herausforderungen!

Damit das Gehirn nicht in eingefahrenen Routinebahnen stecken bleibt, braucht es permanent andersartige Herausforderungen. Nur diese lösen im Gehirn eine emotionale Erregung (Arousal) aus. Um diese zu beruhigen, fängt das Gehirn an, ernsthaft nach einer Lösung zu suchen. Das Denken bleibt beweglich. Für Führungskräfte bedeutet das: Sie sollten ihre Mitarbeiter regelmäßig vor neue Herausforderungen stellen. Dazu kann zum Beispiel Job-Rotation – also das Modell des regelmäßigen Arbeitsplatzwechsels innerhalb einer Abteilung oder des Unternehmens – eingesetzt werden.

Vernetzen Sie das Know-how im Unternehmen!

Die Lösungssuche gelingt im Gehirn am besten, wenn viele und weit voneinander entfernt liegende neuronale Netzwerke gleichzeitig aktiviert werden. Im kreativen Prozess werden sie dann neu miteinander verknüpft. Kreativ sein heißt demnach nicht in erster Linie, Neues zu erfinden, sondern das bereits vorhandene, aber bisher voneinander getrennte Wissen auf eine neue Weise zu verbinden. Für das Management bedeutet das: Es muss versuchen, das unterschiedliche Know-how im Unternehmen immer wieder neu zu mischen. Zum Beispiel indem es durch „Abteilungs-Hospitanzen“ Schnittstellen bildet, abteilungsübergreifende Teams aufsetzt oder in Großgruppenkonferenzen die Organisationsmitglieder vernetzt.

Schaffen Sie eine positive Fehlerkultur!

Angst entsteht als Folge von Verunsicherung. Sie löst im Gehirn ein archaisches Notfallprogramm aus, das nur noch drei Verhaltensweisen zulässt: Angriff, Flucht oder Erstarrung. Andere komplexe, handlungsleitende Erregungsmuster sind nicht mehr aktivierbar. Kreative Problemlösungen sind unter solchen Umständen unmöglich. Übertragen auf das Management bedeutet das: Es muss dafür sorgen, dass die Mitarbeiter möglichst wenig Druck und Versagensangst verspüren. Dafür ist vor allem eine positive Fehlerkultur notwendig. Heißt: Fehler sollten nicht bestraft, sondern vielmehr als Chance gesehen werden, aus ihnen zu lernen. Im Kreativprozess muss ein jeder das Recht haben, Fehler zu machen – ohne Sanktionen zu befürchten.

Sorgen Sie für positive Erfahrungen!

Alle Netzwerke im Gehirn, die gleichzeitig aktiviert werden, werden aneinander gekoppelt. Das ist der Grund, warum das Gehirn bestimmte Emotionen mit bestimmten Gefühlen, Gerüchen, Personen oder Situationen verknüpft. Für Führungskräfte heißt das: Sie müssen dafür sorgen, dass ihre Mitarbeiter ihre Person mit positiven Erfahrungen verknüpfen. Zum Beispiel indem sie sie loben, Interesse für ihre Person zeigen oder ihnen in schwierigen Situationen mit Rat zur Seite stehen. Durch diese positiven Kopplungen erzeugen sie Zugehörigkeitsgefühl und Leistungsbereitschaft bei den Mitarbeitern.