Schöne neue (Arbeits-) Welt

Von der „Brave New World“ die Aldous Huxley der Menschheit prophezeit hat, ist manches heute schon Wirklichkeit. Eine Weltregierung gibt es allerdings noch nicht, und auch noch keine Brut- und Aufzuchtstationen, in denen der Nachwuchs für die verschiedenen Kasten von Menschen, von Alphas bis Epsilons produziert wird. Aber die allgemeine Konditionierung auf Konsum und Sex funktioniert schon recht gut und nach der Wunderdroge „Soma“, die alle glücklich macht, weil sie das Bedürfnis zum kritischen Denken unterdrückt, wird schon lange intensiv gesucht.

Und doch liegt Huxley mit seiner Prognose völlig daneben. Als er sie 1932 entwarf und ins Jahr 2540 verlegte, konnte er noch nicht einmal ahnen, wie schnell sich die Welt, wie er sie noch kannte, verändern würde. Völlig unvorstellbar war für ihn eine fortschreitende Auflösung der hierarchischen Ordnungsstruktur der Gesellschaft, wie wir sie gegenwärtig schon in vielen Bereichen erleben. Deshalb führt er diese alte Ordnung auch nur konsequent weiter – mit einer „Weltregierung“ und der gezielten Züchtung strenge hierarchisch organisierter Kosten.

Und davon, dass es einmal möglich würde, „niedere Arbeiten“ von digital gesteuerten Automaten und Robotern erledigen zu lassen, konnte er damals noch nicht einmal träumen. So ist es also an der Zeit, die von Aldous Huxley entworfene Zukunftsversion, wie es heute so schön heißt: upzudaten.

Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft? Wie verändert sich unser Leben, was kommt auf uns zu? Worauf müssen wir uns jetzt schon vorbereiten? Das sind spannende Fragen, für die wir alle, nicht nur Science-Fiction-Autoren und Zukunftsforscher nach Antworten suchen. Der einfachste und deshalb wohl auch verbreitetste Ansatz besteht darin, einfach das linear weiterdenken, was zu einem bestimmten Entwicklungsstadium einer Gesellschaft bereits entstanden ist.

Wir kennen die auf diese Weise extrapolierten Vorhersagen des künftigen Bevölkerungswachsens, der Klimaerwärmung oder den Anstieg dementieller Erkrankungen zu Genüge. Das sind wichtige, hilfreiche und mit objektiven Daten belegbare wissenschaftliche Prognosen. Aber sie alle beruhen alle auf einer nur selten ernsthaft hinterfragten Annahme: sie gehen davon aus, dass sich die Lebenswelt der Menschen in bestimmter Weise verändert, nicht aber die Menschen selbst. Sie entwerfen ein Szenario, das dann mit größter Wahrscheinlichkeit eintritt, wenn wir alle mehr oder weniger genauso weitermachen wie bisher.

Und in der Tat gibt es ja auch genügend Befunde und sogar wissenschaftlich abgesicherte Theorien, die dem Menschen eine enorme Änderungsresistenz attestieren oder besser: unterstellen. Eine zeitlang hielt man den lieben Gott für denjenigen, der die Menschen so gemacht hatte, wie sie waren. Später wurden die genetischen Anlagen dafür verantwortlich gemacht, dass Menschen mit besseren oder schlechteren Voraussetzungen zur Welt kamen und sich davon dann auch nichts mehr verändern ließ.

Inzwischen hat diese deterministische Zuschreibung ihre einstige Überzeugungskraft längst eingebüßt. Entscheidend dafür waren neue Entdeckungen und neue Erkenntnisse, vor allem auf dem Gebiet der Neurobiologie. Als genetisch angelegt erwies sich lediglich die Herausbildung eines enormen Überschusses an Nervenzellen und Nervenzellverknüpfungen. Welche dieser Verknüpfungsangebote im sich entwickelnden Gehirn aber bestehen bleiben und stabilisiert werden, hängt davon ab, was für Erfahrungen ein Mensch, zunächst im Verlauf seiner vorgeburtlichen Entwicklung und später als Kind in seinem familiären Umfeld macht. Weil die ersten Vernetzungen im Gehirn anhand der aus dem eigenen Körper im Gehirn ankommenden Signalmuster stabilisiert werden, kommt jedes Kind mit einem Gehirn zur Welt, das genau zu seinem Körper und den dort ablaufenden Prozessen passt. Später sind es die in der Beziehung zu den jeweiligen Bezugspersonen gemachten Erfahrungen, die entscheidend dafür sind, welche neuronalen Verknüpfungen im kindlichen Gehirn stabilisiert und ausgebaut werden und welche nicht.

Das menschliche Gehirn ist also nicht nur am Anfang seiner Entwicklung enorm offen, sondern es behält diese enorme Offenheit, diese Plastizität und Lernfähigkeit prinzipiell bis ins hohe Alter. Jedenfalls dann, wenn der betreffenden Person ihre anfangs mitgebrachte, in der inneren Organisation des Gehirns angelegte Freude am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten nicht verloren geht.

Was dieses „Tätig sein“ für die Entwicklung des Menschen bedeutet, hat Friedrich Engels in einem sehr lesenswerten Aufsatz herausgearbeitet.  Im eigenen Tätigsein sind wir Menschen in der Lage, unsere beiden seelischen Grundbedürfnisse – das nach Kompetenzerwerb, Autonomie und Freiheit einerseits und das nach Zugehörigkeit, Verbundenheit und Geborgenheit andererseits gleichzeitig zu stillen. Wer etwas tut, das ihm eine eigene Weiterentwicklung ermöglicht und das ihn gleichzeitig in diesem Tun mit sich selbst und mit anderen Menschen verbindet, ist kein Bedürftiger mehr. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine Person die in ihr angelegten Potentiale frei und aus sich selbst heraus entfalten. Denn nur dann erlebt sie sich als Subjekt, als Gestalter ihres eigenen Lebens und ihres Zusammenlebens mit anderen, nicht aber als Objekt der Absichten und Erwartungen, der Belehrungen und Bewertungen oder gar der Maßnahmen und Anordnungen anderer.

Das Problem ist nur: Diese Erfahrung können nur solche Menschen machen, die nicht in eine hierarchische Ordnungsstruktur der Gesellschaft hineinwachsen und eingebunden werden. Denn dort werden sie zwangsläufig zu Objekten der jeweils übergeordneten Personen oder Organisationsebenen gemacht.

Lösbar wird dieses Problem nur durch einen fortschreitenden Abbau dieser tradierten Hierarchien. Das bedeutet aber, dass dann auch kein Vorgesetzter mehr da sein wird, der seinen Untergebenen vorschreibt, was sie wie und bis wann zu tun haben. Möglich ist das aber nur dann, wenn das, was die meisten Menschen bisher als „Arbeit“ betrachtet haben, künftig anders als bisher verstanden wird. Es gibt Menschen, die deshalb „arbeiten“, weil sie gern tätig sind. Die freuen sich über alles, was sie dabei zustanden gebracht haben, sei es, weil es sie selbst oder andere weiterbringt. Und es gibt auch solche, die deshalb „arbeiten“, weil sie mit dem, was sie dabei leisten, etwas erreichen oder erlangen wollen. Anerkennung beispielsweise, gern in Form einer entsprechenden Entlohnung. Oder Bedeutsamkeit, die nach durch das Erreichen höherer Positionen auf der Karriereleiter sichtbar werden soll.. Erstere betrachten ihr bloßes Tätig sein (in Form der Ideen, die sie entwickeln oder der Produkte, die sie herstellen) als erfüllend. Letztere verfolgen mit dem, was sie tun, einen Zweck und ein Ziel. Sie machen sich damit also selbst zum Objekt ihres ungestillten Bedürfnisses nach mehr Anerkennung oder größerer Bedeutung.

Zwangsläufig ist dann auch das, was Personen mit solch unterschiedlichen Motiven erzeugen, was sie also erarbeiten, und wie sie das tun, nicht identisch, auch wenn es auf den ersten Blick ähnlich aussieht. Wer nicht wirklich an dem interessiert ist, was er macht, sondern sich primär an der Wirkung seines Tuns auf andere (an deren Anerkennung, Lob oder Honorierung) orientiert, wird versuchen, seine „Arbeit“ genau so zu verrichten, dass das Ergebnis den Vorgaben und Maßstäben dieser anderen Personen gerecht wird.

Das ist völlig in Ordnung so, aber diese Art von Arbeit hat einen bedenkenswerten Nachteil: Sie ist so genau definiert, so gut beschreibbar und ausführbar, dass sie nicht nur von jeder anderen Person mit einer ähnlichen Qualifikation ausgeführt werden kann (wie das bisher der Fall war, etwa bei koreanischen Altenpflegerinnen), sondern auch von einem Automaten oder Roboter mit einer entsprechenden Programmierung (wie das im Zuge von Industrie 4.0. zunehmend der Fall sein wird). 

Niemand kann gegenwärtig genau vorhersagen, wie viele Berufsbilder und Arbeitsplätze es in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr geben wird und wie groß die Zahl derjenigen sein wird, deren „Arbeit“ in zwanzig Jahren von Automaten und Robotern ausgeführt wird. Sicher ist nur, dass von diesen digitalen Maschinen diejenigen Arbeiten übernommen werden, bei denen es nicht darauf ankommt, wer sie ausführt, sondern nur darauf, dass sie möglichst effizient, zuverlässig und vorschriftsmäßig ausgeführt werden.

Krankenpfleger, Gärtner, sogar Ärzte, Lehrer oder Richter, die einfach nur ihre Job machen und ihre jeweiligen Aufgaben so erledigen, wie es von ihm verlangt wird, sind schnell durch derartige Automaten ersetzbar. Nicht weil das billiger ist, sondern weil diese Maschinen solche Routinearbeiten effizienter und zuverlässiger ausführen. Sie brauchen weder Schlaf noch Urlaub, kennen keine Ermüdung, machen keine Fehler und sind in jeder Hinsicht produktiver als lebendige „Arbeiter“, die diese Tätigkeiten für Lohn oder andere Qualifikationen ausführen.

Durch digitale Maschinen, Roboter und Automaten ersetzbar sind – und aus ihren bisherigen Arbeitsverhältnissen freigesetzt werden – künftig  also in erster Linie all jene Personen, die nur deshalb arbeiten, weil sie müssen. Gezwungenermaßen, lustlos, nicht wirklich interessiert an dem, was sie machen, sondern vor allem an dem, was sie dafür bekommen. Das sind nicht wenige, und was diese digitalen Geräte zu leisten imstande sind, ist heute bereits beeindruckend genug. Selbstfahrende Autos und japanische Pflegeroboter sind nur der Anfang einer nicht mehr aufzuhaltenden Entwicklung.

Sicher entstehen mit dieser Digitalisierungswelle auch viele neue Tätigkeitsfelder und Berufe. Aber eben nur für all jene, die Lust haben, sich hier einzubringen. Dazu zählen sicher nicht diejenigen, die noch nie in ihrem Leben gern und mit einer inneren Freude am Tätigsein gearbeitet haben. Die werden in dieser schönen neuen Arbeitswelt nicht mehr gebraucht. Weil es so viele sind, können sie nicht ohne Einkommen aus ihrem bisherigen Beschäftigungsverhältnissen freigesetzt werden. Die Lösung für dieses Problem ist die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass jemand, der noch nie in seinem Leben gern gearbeitet hat, seine Freude am Tätigsein entdeckt, wenn sie oder er nun gar nicht mehr arbeiten muss. 

Wesentlich näher liegend ist es, dass dieses nicht mehr durch lustlos ausgeführte Arbeit verdiente Einkommen von diesen Personen zur Verwirklichung all der vielen Träume genutzt wird, die sich im Rahmen ihrer bisher ausgeführten Lohnarbeit nicht realisieren ließen. Die dafür erforderlichen Geräte und deren Hersteller warten bereits auf ihre Nutzer. Zeit haben die ja dann genug und wahrscheinlich auch ausreichend Geld, um sich diese VR-Brillen zu gönnen. Und die Programme werden auch immer besser. Da bleibt in Zukunft kein Wunsch mehr offen. Mit Delphinen im Meer spielen, den Mount Everest erklimmen, günstig einkaufen – alles ist möglich, ohne auch nur vom Sofa aufstehen zu müssen. Über 90 % der Entwicklungskosten für diese immer realer werdenden VR-Programme werden gegenwärtig von der Pornoindustrie finanziert.

Damit schließt sich der Kreis und wir kommen wieder am Beginn dieses kleinen Ausfluges in die schöne neue Welt des Arbeitslebens an: So kann es werden, und so oder so ähnlich wird es wohl auch kommen – jedenfalls dann, wenn wir einfach so weitermachen wie bisher. Hirntechnisch wäre es allerdings kein Problem, uns selbst und unsere bisherige Einstellung zu dem, was wir „Arbeit“ nennen, grundlegend zu verändern. Jeder Mensch kommt ja mit einer unbändigen Lust am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten zur Welt. Dass so vielen diese anfängliche Freude am Lernen und am Tätigsein verloren geht, ist kein Naturgesetz. Indem wir schon unsere Kinder zu Objekten unserer Erwartungen und Ziele, unserer Belehrungen und Bewertungen, unserer Maßnahmen und Anordnungen machen, zwingen wir sie, diese angeborene Freude am Lernen und Gestalten zu unterdrücken. 

Und wie soll jemand später mit Freude tätig sein, der seine Lust am Lernen schon im Kindergarten, spätestens aber in der Schule verloren hat?

Das könnten wir ändern, wenn wir wollten: Vielleicht trägt das hier entworfene Szenario dazu bei, den dazu erforderlichen Willen endlich aufzubringen.