Mehr Menschlichkeit in Unternehmen

Erstveröffentlichung im maas-Magazin
Autor: Sebastian Purps-Pardigol 
Artikel als Download

Die Digitalisierung hat weitreichende Folgen, auch auf das Miteinander der in den Unternehmen tätigen Menschen. Bei mittelständischen Unternehmen ebenso wie bei Konzernen führt das zu einem Kulturwandel, denn nur so bleiben sie erfolgreich am Markt. Wenn alte Strukturen aufgebrochen werden und Platz für einen neuen Umgang miteinander geschaffen wird, kann ungenutztes Potenzial der Mitarbeitenden gehoben werden. Zum Wohle aller.

 

„Der herausforderndste Teil dessen, was vor uns liegt, ist der Menschliche“, erzählt Otto-Group CEO Alexander Birken bei einem gemeinsamen Mittagessen in Hamburg. Birken berichtet von der digitalen Transformation, in der sich das traditionsreiche Familienunternehmen befindet, und darüber, wie sich dadurch die Zusammenarbeit der Menschen auf eine gute Art und Weise verändert.

Für die Initiative Kulturwandel.org, die der Neurobiologe Gerald Hüther und ich gemeinsam gegründet haben, untersuche ich seit acht Jahren Firmen, die bemerkenswerte Unternehmenskulturen entwickelt haben. Ich besuchte beispielsweise die norddeutsche Hotelkette Upstalsboom, deren Eigentümer Bodo Janssen das Glück des Einzelnen zum höchsten Firmenziel ausgerufen hat – mit dem Ergebnis, dass Mitarbeiterzufriedenheit und Umsatz sich verdoppelten. Die Krankentage gingen um 80 Prozent zurück und die Verweildauer der Mitarbeitenden im Unternehmen liegt heute viermal höher als im Branchendurchschnitt. Ein weiteres ermutigendes Beispiel: die Geschäftsleitung des Automobil-Zulieferers Phoenix Contact aus Blomberg. Im schlimmsten Krisenjahr der Firmengeschichte reduzierten die Führungskräfte ihre eigenen Gehälter prozentual genau so sehr wie die ihrer Mitarbeitenden, die in Kurzarbeit gehen mussten. Das war nur eine von vielen Maßnahmen, mit denen die Chefs zum Ausdruck brachten, wie wichtig ihnen ihre Mitarbeitenden sind. Den Menschen geht es bei Phoenix so gut, dass kaum jemand das Unternehmen verlässt – Headhunter beißen sich regelmäßig die Zähne aus.

 

Die digitale Transformation gelingt nur Hand in Hand mit dem kulturellen Wandel

Waren es in den vergangenen Jahren noch vereinzelte Firmen, die sich durch eine solche Menschen zugewandte Haltung der Chefs abhoben, ist inzwischen absehbar, dass die Zahl dieser Unternehmen in den kommenden Jahren rapide steigen wird. Weshalb das so ist, habe ich gemeinsam mit meinem Co-Autor Henrik Kehren in der Recherche für unser Buch Digitalisieren mit Hirn entdeckt.

Wir haben knapp drei Dutzend Firmen analysiert, die ihre eigene digitale Transformation vorbildhaft vorantreiben. Unsere abschließende Erkenntnis: Der Begriff „digitale Transformation“ ist im Grunde irreführend. Eigentlich müsste es heißen: „eine durch die Digitalisierung voran- getriebene kulturelle Transformation“. Denn der digitale Wandel gelang in diesen Unternehmen nur, weil sich die Chefs auch intensiv mit dem kulturellen und dem menschlichen Aspekt beschäftigten. Alexander Birkens` Otto Group, hat dafür sogar eine eigene Abteilung mit dem Namen „Kulturwandel 4.0“ gegründet. Die Art und Weise, wie Mitarbeitende geführt werden, wie diese sich einbringen können, ja sogar das Selbstbild der Chefs wurde in diesen Unternehmen auf den Prüfstand gestellt. Das Ergebnis: Tradierte Firmen- und Hierarchiestrukturen, die teils noch aus dem alten Preußen stammten, begannen sich aufzulösen. Die Menschen in diesen Unternehmen konnten neue, gesündere Beziehungen zueinander aufbauen. Dadurch gelang es, dass sie viel mehr des in ihnen liegenden Potenzials einbringen konnten, als es zuvor der Fall war.

 

Zeit für ein neues Menschbild

Der Telekomanbieter Swisscom ist eines von vielen vorbildlichen Unternehmen, das wir beispielhaft untersucht haben: Wie in allen europäischen Ländern ist auch in der Schweiz ein Ende des Wachstums von Festnetz-, DSL- und Mobilfunkanschlüssen absehbar. In manchen Bereichen verlor das Unternehmen jährlich einen dreistelligen Milli- onenbetrag. Bereits im Jahr 2012 hatte das Berner Unter- nehmen begonnen, das neue digitale Produkt „Swisscom TV 2.0“ zu entwickeln, um diese Verluste zu kompensieren. Doch das verantwortliche Team bemerkte, dass es nur quälend langsam vorankam. „Wenn ihr so weiterarbeitet wie bisher, wird das Projekt scheitern“, war das Feedback der Konzernleitung an Peter Fregelius, der diesen Bereich leitet. Auch Fregelius` Team selbst ahnte, dass es mit den bisherigen Methoden nicht zum gewünschten Ziel kommen würde. Es begann, sich gänzlich anders zu organisieren. Die Mitarbeitenden entwickelten konkrete Ideen für eine neue, agile Zusammenarbeit. „Wir haben einen Weg gefunden, unsere Arbeitsweise komplett zu überdenken“, berichtet Fregelius. Bereits das war bemerkenswert: Nicht der Chef selbst veränderte Strukturen und Prozesse, sondern er delegierte das an die Mitarbeitenden. Die Führungskräfte lösten sukzessive die bisherigen Geneh- migungsprozesse auf und ließen die Teams immer mehr selbst entscheiden. Menschen und Interaktionen wurden wichtiger als das Einhalten starrer, etablierter Prozesse. Langfristige Projektpläne wichen kurzfristig erreichbaren Zwischenzielen, durch die die Mitarbeitenden immer wieder motiviert wurden.

Innerhalb des Staatskonzerns bildete sich eine Art „gallisches Dorf“, das plötzlich mit hoher Geschwindigkeit, mit großem Vertrauen vonseiten der Vorgesetzten und mit überzeugendem Erfolg ein Produkt entwickelte, das inzwischen einen bedeutsamen Anteil am Firmenergebnis erzielt. „Es geht im Grunde nicht um neue Methoden, sondern um ein neues Menschenbild“, berichtet uns einer der wichtigen Protagonisten der Swisscom. Inzwischen wurden über 1.500 Kollegen geschult, um zu lernen, wie diese andere Zusammenarbeit gelingen kann. „Dieser Wandel geschieht aber nicht über Nacht“, sagt Fregelius. „Die Führungskräfte müssen dazu bereit sein. Auch für mich dauerte es eine ganze Zeit, die damit verbundene Unsicherheit auszuhalten.“

 

Begegnung auf Augenhöhe

Die von Fregelius erwähnte Unsicherheit entsteht durch etwas, über das zwar in vielen Unternehmen seit vielen Jahren gesprochen wird, was bisher jedoch kaum gelebt wurde: Empowerment. Das Zulassen der Mitgestaltung durch die Mitarbeitenden. Das Loslassen durch die Chefs. Das Ergebnis dieses Wandels: Führungskräfte und Mitar- beitende begegnen sich immer mehr auf Augenhöhe – von Mensch zu Mensch. Für manche Chefs stellt sich dann jedoch die Frage: „Was ist meine Rolle, wenn ich nicht mehr so viel mitzureden habe?“.

Die für die Betroffenen etwas ernüchternde Erkenntnis ist: Es gibt darauf noch keine klare Antwort. „Wir wissen doch alle nicht genau, wie die Zukunft aussehen wird“, gibt Prof. Gunther Olesch, Geschäftsführer für Personal bei Phoenix Contact, zu. „Wir können nur Folgendes tun: Sehr viel und sehr regelmäßig mit allen Menschen im Unternehmen kommunizieren, um verstehbar zu machen, was geschieht.“

 

Demut ist nicht nur Ausdruck persönlicher Reife, sondern wirkt auch positiv auf das Umfeld.

Die von Fregelius erwähnte Unsicherheit, die durch die vorübergehend unklare eigene Rolle entstehen kann, birgt das sehr große Potenzial persönlichen Wachstums. Bradley Owens, Professor für Business Ethics an der Marriott School (USA, Utah), beschäftigt sich seit sechs Jahren mit dem Phänomen der „Demut von Führungskräften“. Inzwischen hat er weltweit über 6.000 Menschen untersucht. Dabei stellte er fest: Teams von demütigen Chefs entwickeln sich überdurchschnittlich gut. Weiß eine Führungskraft nicht mehr weiter und spricht offen über die eigene Begrenzung – so wie es beispielsweise Peter Fregelius von der Swisscom tut –, so wird sie zu einem Vorbild für die eigenen Mitarbeitenden. „Zu sehen, dass auch der eigene Chef immer wieder persönliche Wider- stände erlebt und diese für sich meistert, wirkt inspirierend auf die Mitarbeitenden“, erzählt uns Bradley Owens. „Wenn es für einen Mitarbeitenden persönlich mal schwierig wird, hat er durch den Chef ein Referenzmodell, an dessen Wachstum er sich orientieren kann.“