Begeisterung ist Dünger für’s Gehirn

Aus dem Magazin Gelb, DHL, Interview: Melanie von Marschalck

Der Biologe und Autor Professor Gerald Hüther zählt zu den renommiertesten Wissenschaftlern hierzulande. Das mag nicht nur seinem Fachgebiet geschuldet sein – der angewandten Neurobiologie –, sondern auch der Art und Weise, wie er die Ergebnisse seiner Forschungen für die Gesellschaft nutzbar macht.
Seit Jahren ist Gerald Hüther dem »Geheimnis des Gelingens« auf der Spur. Ihn interessiert, welche Faktoren dazu führen, dass Menschen ihre angelegten Fähigkeiten entfalten. Er plädiert für Kreativität und Begeisterung anstelle von Leistungsdruck und Stress.

Für den 61-Jährigen selbst scheint diese Formel zu greifen. Seine Publikationsliste ist lang, seine Aktivitäten außerhalb der Universität Göttingen, wo er einen Lehrstuhl für Neurologie bekleidet, sind vielfältig.
Besonders am Herzen liegt ihm die Unternehmenskultur. Mit Wissenschatlern und Führungskräften hat Hüther die »Initiative Kulturwandel in Unternehmen und Organisationen« (www.kulturwandel.org) ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Potenziale der Mitarbeiter zu entfalten – und das beinhaltet auch neue Führungskonzepte.


gelb: Eine Ihrer Grundthesen lautet: Das Gehirn ist eine Baustelle. Wie kann ich denn mein Gehirn noch umbauen?

Gerald Hüther: Das ist die wohl interessanteste Erkenntnis, die in den vergangenen Jahren in der Neurobiologie entstanden ist: Die Veränderung von Netzwerken im Gehirn ist möglich, sie muss aber von innen her kommen – es muss einem unter die Haut gehen. Im Gehirn müssen die emotionalen Zentren aktiviert werden. Das passiert aber nur dann, wenn etwas begeistert. Denn dann geschieht das Wunder: Nervenzellgruppen im Mittelhirn werden aktiv und schütten an den Enden ihrer Fortsätze ganz besondere Botenstoffe aus. Wir nennen sie neuroplastische Botenstoffe, und die wirken wie ein Katalysator oder bildlich gesprochen wie Dünger, der die Umbauprozesse anstößt und unterstützt. Die frohe Botschaft heißt also: Der Mensch kann bis ins hohe Alter neue Netzwerke aufbauen. Die schlechte Botschaft , vor allem für Führungskräfte der alten Schule, lautet, wenn diese Begeisterung nicht zustande kommt, passiert nichts. Das Hirn ist kein Muskel. Sie können es nicht trainieren.


Aber man kann doch Dinge erlernen?

Sie können sich noch so viel Mühe geben, eine neue Vernetzung in Ihre Birne zu bekommen, das wird nichts. Was man ja daran sieht, wie schwer es ist, ein Telefonbuch auswendig zu lernen. Sogar bei Abiturienten sind nach zwei Jahren nur noch 20 bis 30 Prozent des Gelernten abrufbar. Das heißt, es bleibt nichts hängen, nur das, was unter die Haut gegangen ist. Und wenn wir das jetzt auf Unternehmen übertragen, verstehen auch Führungskrä!e, warum diese ständigen Schulungen nichts helfen: Das Gesundheitsverhalten will man da ändern, das Essverhalten, das Arbeitsverhalten und weiß der Kuckuck was noch alles. Diese Vorstellungen stammen aus dem vorigen Jahrhundert, als man noch geglaubt hat, man könne das Verhalten von Menschen durch Belehrungen oder den Einsatz von Dressurverfahren ändern.


Haben Sie deshalb die Initiative Kulturwandel in Unternehmen und Organisationen ins Leben gerufen?

Ja, ich unterstütze Projekte, die zeigen, dass in Menschen mehr Potenzial steckt als das, was sie bisher zu entfalten in der Lage waren. Die alten Organisationsformen und Strukturen in Unternehmen scheinen diese Potenzialentfaltung nicht zu ermöglichen, oft sogar zu behindern. Ein Transformationsprozess ist nötig, ein Kulturwandel. Das ist keine neue Technik oder Methode, die man da einführt. Es sind günstigere innere Einstellungen und Haltungen, die sich Führungskräfte in zukunftsfähigen Firmen aneignen müssten.


Was hat das mit Hirnforschung zu tun?

Menschen gehen doch nicht nur arbeiten, um Geld zu verdienen, sondern weil diese Arbeit ein Teil ihrer Identität ist, weil es Teil des Menschseins ist. Und jetzt kommen die Hirnforscher und sagen: Das stimmt, Menschen brauchen Arbeit, um sich mit dem, was sie können, in menschliche Gemeinschaften einzubringen, sie wollen dazugehören und gebraucht werden. Und wenn das in einem Unternehmen möglich ist, dann stellt sich Wohlbefinden von Mitarbeitern ein. Mitarbeiter, die sich wohlfühlen, leisten nicht einfach nur mehr, sondern sorgen für das Weiterkommen und die Weiterentwicklung des Unternehmens.


Aber jetzt mal ganz praktisch: Ich bin der Chef, wie soll ich mich meinen Mitarbeitern gegenüber verhalten, um deren Wohlbefinden zu steigern?

Primär müssten Sie in einem Unternehmen, wenn Sie so einen Kulturwandel anstreben, Bedingungen schaffen, unter denen die drei sogenannten salutogenetischen Grundregeln erlebbar werden. Die Salutogenese ist die Wissenschaft davon, wie wir gesund bleiben. Im Gegensatz zur Pathogenese, die wir im vorigen Jahrhundert ausgiebig untersucht und erforscht haben, als es darum ging: Was macht uns krank?


Und wie lauten diese Regeln?

Erstens, alle Mitarbeiter müssten verstehen, was los ist. Das heißt, in dem Augenblick, wo eine Firma vernünftige Kommunikationssysteme aufbaut, wo der Mitarbeiter spürt, dass er über das, was in der Firma passiert und was für ihn wichtig ist, auch rechtzeitig und gut informiert wird, ist das erste große Bedürfnis schon erfüllt: Er fühlt sich dazugehörig. Das reicht aber noch nicht. Denn wenn er nur versteht und nichts gestalten kann, ist das auch sehr frustrierend. Also ist das Schaffen von Gestaltungsspielraum die zweite Grundvoraussetzung für engagierte Mitarbeit.


Können Sie ein Beispiel für Gestaltungsspielraum geben?

Toyota beispielsweise hat das extrem weit getrieben. Da kann jeder Fließbandarbeiter, der feststellt, dass Ausschuss auf dem Band liegt, das ganze Werk anhalten. Dort hat sogar ein Mitarbeiter, der scheinbar ganz am Ende eines Produktionsprozesses steht, die Möglichkeit, den ganzen Prozess anzuhalten.


Und wie lautet die dritte salutogenetische Grundregel?

Was Mitarbeiter außerdem noch brauchen, ist eine Antwort auf die Sinnfrage. Was ist die Aufgabe dieser Firma? Wofür ist sie unterwegs? Welche Ziele verfolgt sie? Kann ich mich damit identifizieren? Die Antwort schafft Identität und führt dazu, dass der Einzelne sich in seinem Unternehmen sinnvoll in etwas Größeres eingebunden fühlt.


Und wenn diese Grundbedürfnisse nicht erfü̈llt werden …

… äußert sich das in Hilflosigkeit, in Mutlosigkeit, Resignation. Von dort ist es nicht mehr weit bis zur Herausbildung einer Depression. Heutzutage haben wir eine schönere Bezeichnung dafür, die aber dasselbe zum Ausdruck bringt – und dieses neue Krankheitsbild heißt Burn-out.


Wenn ich ein schlechter Mitarbeiter wäre, wie bringt mich mein Chef dazu, mich zu verändern?

Früher hat man geglaubt, man müsse seine Mitarbeiter als Chef belehren, sie zur Fortbildung schicken, ihnen Belohnungen versprechen, ihnen mit Entlassung drohen, wenn sie sich nicht ändern.
Aber das sind nach den Erkenntnissen, die ich aus dem Bereich der Neurobiologie und Hirnforschung an die Öffentlichkeit zu tragen versuche, leider die falschen Strategien. Das Problem ist ja nicht, dass Mitarbeiter sich falsch verhalten. Das Problem ist, dass ihr Verhalten durch etwas gelenkt wird, was in unserem Hirn in der präfrontalen Rinde angesiedelt ist. Das sind Netzwerke, die durch Erfahrungen entstanden sind, die ein jeder bisher gemacht hat. Und aus diesen Erfahrungen entstehen entsprechende innere Haltungen und Einstellungen. Und die lenken das Verhalten. Die müssten sich verändern.


Wie komme ich an diese präfrontale Rinde ran?

Wenn Sie als Chef die Einstellungen und Haltungen Ihrer Mitarbeiter verändern wollen, müssten Sie selbst eine innere Einstellung haben, die es Ihnen ermöglicht, Ihre Mitarbeiter für einen eigenen Weiterentwicklungsprozess zu öffnen. Sie könnten sich beispielsweise fragen, ob Sie als Vorgesetzte in der Lage sind, zu beurteilen, ob der Mitarbeiter am richtigen Platz ist, ob es ihm oder ihr überhaupt gutgeht. Dazu braucht man diese Einstellung eines, wie ich das gern nenne, Supportive Leaders. Supportive Leadership wäre das ideale Führungskonzept für das 21. Jahrhundert. Die für ein Unternehmen Verantwortlichen müssten Bedingungen schaffen, in denen es wahrscheinlich ist, dass die Mitarbeiter dieses Unternehmens neue, günstigere Erfahrungen machen. Wenn die alten, ungünstigen inneren Einstellungen und Haltungen durch ungünstige Erfahrungen entstanden und im Frontalhirn verankert worden sind, können diese Verschaltungen später nur durch neue, günstigere Erfahrungen ersetzt werden.


Was für Bedingungen sollten demnach Unternehmen schaffen?

Sie müssten einen Führungsstil entwickeln und ein Betriebsklima schaffen und so ihren Mitarbeitern einen Erfahrungsraum anbieten, in dem sie sich eingeladen, ermutigt und inspiriert fühlen, sich noch einmal auf eine neue Erfahrung mit sich selbst, mit anderen, mit der Firma einzulassen. Führungskräfe müssten ihren Mitarbeitern als Gegenüber auf Augenhöhe begegnen. Sie müssten zu ihnen eine Beziehung finden, die es ihnen ermöglicht, sie als Chef zu schätzen und gern dabei behilflich zu sein, die Aufgaben dieser Firma oder Abteilung zu bewältigen.


Ich habe mich jetzt sehr für Ihre Aussagen begeistert. Verändert sich mein Gehirn schon?

Jeder kleine Begeisterungssturm führt dazu, dass im Hirn Umbauprozesse von neuronalen Netzwerken in Gang gesetzt werden. Ob die aber auch nachhaltig stabilisiert werden können, hängt davon ab, ob Sie diese Begeisterung auch morgen noch aufrechterhalten können oder ob sie Ihnen bis dahin schon wieder von irgendeinem Besserwisser und Alleskönner geraubt worden ist.
Vielen Dank für das Gespräch!