A.T. Kearney 361°

A.T. Kearney 361° – Die Neu-Erfindung der Familie

Die Unternehmensberatung A.T. Kearney widmet dem Thema „Die Neu-Erfindung der Familie“ eine Veranstaltungsreihe, auf der ausgewiesene Experten Antworten auf Fragen zu Familie und ihren wichtigsten Herausforderungen geben. Diese Mitschrift eines Vortrags von Gerald Hüther stammt aus dem September 2011 in Frankfurt.

Ich bin Hirnforscher, und es stellt sich die Frage, was mich dazu gebracht hat, diesen Weg einzuschlagen. Um der Antwort näherzukommen, lade ich Sie ein, mit mir zusammen kurz in meine Kindheit zurückzuschauen.

Ich bin in einer Wassermühle in Thüringen aufgewachsen. Als Kind war ich umgeben von einer Großfamilie, die aus mehreren Generationen bestand. Meine Eltern und die anderen Erwachsenen hatten eigentlich nie Zeit, sich spezielle Aktivitätenfür uns Kinder auszudenken. Das war die beste pädagogische Frühförderung, die man sich vorstellen kann. Wir Kinder waren immer unterwegs auf dem riesigen Gelände. Ständig haben wir uns irgendetwas ausgedacht.

Mit sechs Jahren gründete ich einen Zoo, der von M̈ücken, Kaulquappen und anderen Tieren bevölkert war. Man kann als Kind so viele tolle Sachen machen, wenn man nicht in die Fänge der Eltern gerät, die einen mit ihrem Förderungswahn quälen.

Wenn Kinder sich bewegen, gemeinsam spielen oder bauen, so macht das Spaß und verbessert ganz nebenbei auch ihre Körperbeherrschung, ihren Bewegungsapparat und ihre Haltung. Es macht sie fit, und ihre Erfolgserlebnisse festigen ihr Selbstvertrauen. Weil das Spielen und Bauen mit anderen mehr Spaß macht als alleine, lernen Kinder dabei gleichzeitig, auf andere zu achten, mit anderen gemeinsam zu planen, zu üben und die dabei auftauchenden Probleme zu bewältigen. Dazu gehört auch, anderen zu vertrauen. Und wenn sich die erwachsenen Zuschauer dann auch noch von den kindlichen Leistungen verzaubern oder begeistern lassen, so lernen Kinder, dass sie in der Lage sind, anderen Freude zu bereiten.

Geschichten wie die aus meiner Kindheit sind es, die auch die neuere Hirnforschung bewegen. Meine Wissenschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten einige Ergebnisse vorgelegt, die unsere Sichtweise auf die Kindheitsentwicklung stark verändert haben.

Früher hatte man die Vorstellung, es gebe genetische Programme, die dafür sorgen, dass sich das menschliche Gehirn verdrahtet und irgendwann fertig ausgebildet sei. Ab diesem Zeitpunkt benutze der jeweilige Mensch sein Hirn ein Leben lang, ohne dass seine Denk- und Gefühlszentrale sich noch bedeutend verändere. In diesem Weltbild gab es nicht viel Raum für die Ideen von Entwicklung und Lernen. Es war eine statische Vorstellung. Der Mensch musste sich mit seinem Denkapparat, so wie er einmal war, zufriedengeben.

Die neuere Forschung sieht das ganz anders.

Meine Kollegen gehen heute davon aus, dass die Gene gar nicht wissen können, was man als Voraussetzung braucht, um gut durch sein jeweiliges Leben zu kommen. Die naturräumlichen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen auf der Welt unterscheiden sich stark. Indigene Völker im brasilianischen Amazonas-Urwald beispielsweise benutzen 60 oder mehr verschiedene Wörter, um die Farbe Grün zu differenzieren.

Die Inuit am Polarkreis müssen ihre Wahrnehmung dagegen auf ganz andere Dinge konzentrieren. Sie brauchen sehr viele Begriffe für die Beschreibung unterschiedlicher Erscheinungsformen von Schnee und Eis. Deshalb wäre es eine ziemlich komische Vorstellung, wenn wir davon ausgingen, dass das Hirn den Einzelheiten dieser differenzierten Anforderungen mit einem einzigen genetischen Programm gerecht werden könnte.

So haben neue Erkenntnisse aus der neurobiologischen Forschung einen Paradigmenwechsel eingeleitet, der sich immer stärker in der Gesellschaft auszubreiten beginnt. Die im menschlichen Gehirn angelegten neuronalen und synaptischen Verschaltungsmuster sind demnach weitaus plastischer und an neue Nutzungsbedingungen anpassbar, als früher angenommen. Wichtige individuell gemachte Erfahrungen hinterlassen Spuren in Form gebahnter Verschaltungen im Gehirn.

Diese Muster oder inneren Bilder werden im späteren Leben durch neue Eindrücke überlagert und weiter modifiziert, bleiben aber zeitlebens eng an die emotionalen und körperlichen Reaktionen gekoppelt, die mit der primären Erfahrung einhergingen.

Eigene, in sozialen Beziehungen gemachte Erfahrungen sind die wichtigsten Auslöser für die Strukturierung komplexer neuronaler Verschaltungsmuster im menschlichen Gehirn. Subjektive Bewertungen und die damit einhergehende Aktivierung emotionaler Systeme entscheiden über die Art und das Ausmaß der im Hirn ablaufenden Anpassungsprozesse. Diese subjektiven Bewertungen wiederum sind abhängig von bis dato gemachten frühen Erfahrungen bei der Bewältigung von Problemen und Herausforderungen.

Die neuen Erkenntnisse machen deutlich, dass die Hintergründe besonderer Leistungen, aber auch von Fehlentwicklungen und Störungen meist weniger im Gehirn zu suchen sind, sondern eher in den jeweiligen Rahmenbedingungen, unter denen ein Mensch aufwächst. Diese bestimmen die möglichen Erfahrungen, die dafür entscheidend sind, wie sich das individuelle Gehirn (innerhalb des jeweils vorgefundenen sozialen, sozioökonomischen und soziokulturellen Beziehungsgefüges) strukturiert.

Die neue Hirnforschung hat aber noch weitere Ergebnisse erbracht. Das Großhirn und die Großhirnrinde verdreifachen ihr Volumen im ersten Lebensjahr und dehnen sich auch danach noch erheblich aus, aber nicht deshalb, weil dort noch weitere Nervenzellen gebildet werden, sondern weil diese zum Zeitpunkt der Geburt schon vorhandenen Nervenzellen ein dichtes Gestrüpp von Fortsätzen ausbilden und sich mit den Enden ihrer Fortsätze auf vielfältige Weise miteinander verbinden.

Dieser durch genetische Programme gesteuerte Prozess führt dazu, dass in den einzelnen Bereichen der Großhirnrinde ein riesiges Überangebot an Nervenzellenverbindungen und Kontakten entsteht. Weil das kindliche Hirn – oder das genetische Programm, das dessen Entwicklung steuert – nicht wissen kann, worauf es später im Leben ankommt und welche Verbindungen wirklich gebraucht werden, wird also erst einmal ein großer Überschuss an Verschaltungen bereitgestellt. Stabilisiert und erhalten bleiben davon aber nur diejenigen, die auch wirklich benutzt und gebraucht werden. Der Rest wird einfach wieder abgebaut.

Das Ganze kann man mit einem neuen Kaufhaus vergleichen, das anfangs ein möglichst großes Spektrum unterschiedlicher Waren anbietet. Wie das später bereitgehaltene und vertriebene Warensortiment aber aussieht, hängt davon ab, was die Kunden tatsächlich kaufen. Ein Kind kann in der Entwicklungsphase, in der dieses riesige Angebot an verknüpfbaren Nervenzellen bereitgestellt wird, so ziemlich alles lernen.

Deshalb können Eltern, die das für wichtig und sinnvoll halten, ihrem dreijährigen Kind bereits das Lesen, verschiedene Computerspiele oder eine Fremdsprache beibringen – falls sie der Meinung sind, dass es auf diese Fähigkeiten im späteren Leben ganz besonders ankommt. Wenn ein Kind beispielsweise von jungen Jahren an täglich stundenlang fernsieht, bildet sich das Hirn gemäß dieser speziellen Anforderung aus. Das Kind entwickelt ein Superhirn, das wunderbar geeignet ist für massiven TV-Konsum. Andere Fähigkeiten, die es grundsätzlich auch erlernen könnte, kommen dann jedoch zu kurz.

Die moderne Hirnforschung hält damit zwei gute Nachrichten für uns bereit. Erstens:

Im menschlichen Gehirn steckt viel mehr, als es normalerweise leisten muss. Und zweitens: Wenn ein Kind in einer ungünstigen Lebenswelt aufgewachsen ist, kann es den Rückstand des Erlernten während des ganzen Lebens aufholen. Das Gehirn ist immer in der Lage, eine der jeweiligen Situation entsprechende neue Verdrahtung auszubilden.

Diesen Umstand kann man mit Versuchen im Kernspintomografen nachweisen. Wenn man dem Gehirn eines Menschen neue Aufgaben stellt, bildet das Denkorgan neue Verschaltungen aus, die vorher nicht vorhanden waren. Diese kann man als neue Aktivitäten in bestimmten Hirnregionen registrieren. Dies lässt sich beispielsweise bei dem Erlernen einer Fremdsprache, eines Musikinstruments oder einer Sportart zeigen.

So finden wir bei jungen Leuten besonders intensive Vernetzungen in den Gegenden des Gehirns, die dafür verantwortlich sind, die Daumen zu steuern. Das kommt daher, dass die junge Generation permanent Mobiltelefone und Spielkonsolen nutzt. Auch das Sprachzentrum kann sich im Hirn nur dann gut ausbilden, wenn man mit den Kindern viel spricht. Wobei die Erwachsenen hier auch sicher mehr Anregungen bieten könnten. Die tägliche Redezeit, die Eltern in Deutschland heute ihren Kindern zugutekommen lassen, beträgt durchschnittlich acht Minuten.

Unser Hirn ist aber kein Muskel, den man einfach trainieren kann. Es lernt nur, wenn seinem Besitzer etwas unter die Haut geht, wenn man sich für etwas begeistert. Damit Menschen lernen, muss man also Situationen schaffen, die der Betreffende bedeutsam findet. Das Potenzial des Gehirns entfaltet sich nur, wenn etwas Spaß macht.

Wenn Lernprozesse stattfinden, registrieren wir erhöhte Aktivität in den emotionalen Zentren des Gehirns. Immer dann, wenn sich ein Kind auf die Suche macht und dabei etwas findet, das ein kleines bisschen mehr ist als das, was vorher schon da war, so geht es ihm genauso wie jedem Erwachsenen – es freut sich. Solange ein Kind oder ein Erwachsener noch mit der Suche nach etwas beschäftigt ist, herrscht in seinem Gehirn eine gewisse Unruhe, eine Erregung und Spannung. Die wird durch das Erfolgserlebnis plötzlich aufgelöst. Und immer dann, wenn im Hirn aus Durcheinander Ordnung, aus Erregung Beruhigung wird, entsteht ein Gefühl von Wohlbehagen und Zufriedenheit. Je größer die anfängliche Aufregung war, desto größer wird die Freude, die auch schon ein Kind empfindet, wenn nun alles wieder passt. Dann bekommt es umso größere Lust, sich erneut auf die Suche zu machen.

Unter diesen Bedingungen wird im Gehirn immer auch eine Gruppe von Nervenzellen erregt und setzt an den Enden ihrer langen Fortsätze bestimmte Botenstoffe frei, die auch dann abgegeben werden, wenn Drogensüchtige Kokain oder Heroin nehmen. Das lässt erahnen, wie groß dieses Lustgefühl werden kann, welches Kinder empfinden, wenn sie sich immer wieder erfolgreich auf den Weg machen, um die Welt zu entdecken. Da es für kleine Kinder in der für sie noch sehr fremden Welt unendlich viel Neues zu entdecken und in ihren Erfahrungsschatz einzuordnen gibt, wird ihre Lernlust normalerweise nur durch die Phasen der Erschöpfung unterbrochen, die sich zwangsläufig immer einstellen und auch einstellen müssen, damit all das, was sie in der Wachphase gelernt und entdeckt haben, nun im Traumschlaf noch einmal durchgearbeitet, stabilisiertexisten und mit all den anderen bereits vorhandenen inneren Mustern im Hirn verbunden werden kann.

Die bekanntesten der neuroplastischen Botenstoffe heißen Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin, aber auch Peptide wie Endorphine und Enkephaline gehören dazu. Sie alle lösen auf die eine oder andere Weise in nachgeschalteten Nervenzellen eine rezeptorvermittelte Signaltransduktionskaskade aus. Das neurobiologische Signal der Begeisterung wird so bis in die Zellkerne der nachgeschalteten Nervenzellen weitergeleitet. Dort kommt es dann zu verstärkten Abschreibungen von bestimmten Genen. Daraufhin beginnen diese Nervenzellen vor allem solche Eiweiße vermehrt herzustellen, die für das Auswachsen neuer Fortsätze und für die Herausbildung neuer Nervenzellenkontakte gebraucht werden.

Auf diese Weise werden all jene neuronalen Netzwerke ausgebaut und verstärkt, die im Hirn aktiviert worden waren, um genau das zustande zu bringen, was der betreffenden Person ganz besonders am Herzen lag und worüber sie sich deshalb auch so sehr begeistert hatte.

Diese neuroplastischen Botenstoffe werden aber nur dann ausgeschüttet, wenn im Leben etwas wirklich Wichtiges passiert. Sie wirken wie Dünger für diejenigen Hirnbereiche, die man im Zustand der Begeisterung gerade benutzt hat. Man kann sagen: Begeisterung wirkt wie eine Dünger-Gießkanne im Gehirn. Nach und nach entsteht so eine zunehmend dichtere Vernetzung in den betreffenden Hirnregionen, die das Kind zur erfolgreichen Bewältigung von neuen Herausforderungen nutzt. Das kann man besonders bei kleinen Kindern beobachten. In deren Köpfen geht täglich hundertmal ein Dünger-Regen nieder – weil sie sich für so vieles begeistern. Nur deshalb lernen sie so viel.

Dann aber schicken wir die Kinder in die Schule, wo die Begeisterungs- und Lernprozesse bereits abnehmen. Und Menschen im mittleren Alter haben manchmal jahrelang nicht mehr erlebt, dass sie sich für etwas entflammen. Die höchste Erregung, zu der sie fähig sind, ist ein mildes Lächeln. Wenn ein 86-jähriger Mann in einem Kurs an der Volkshochschule Chinesisch lernen möchte, wird das in der Regel schlecht oder gar nicht klappen. Lernt der alte Mann aber eine 65-jährige Chinesin kennen, in die er sich verliebt, sieht die Sache ganz anders aus. Wenn seine neue Flamme sagt, ich möchte nicht in Deutschland bleiben, sondern in mein Dorf in Mittelchina zurückziehen, und er geht mit, hat er beste Voraussetzungen, dort einen überraschenden Lernerfolg zu erzielen. Angetrieben von seiner Begeisterung wird er die neue Sprache nach wenigen Monaten beherrschen.

Wenn aber Kinder zu Beginn ihres Lebens so begeisterungsfähig sind, wie geht es dann mit ihnen weiter? Warum sind viele in der Lage, menschliche und formale Fähigkeiten zu erwerben, sich zu glücklichen, ausgeglichenen Menschen zu entwickeln? Warum verlieren andere ihr Begeisterungspotenzial und bleiben dementsprechend in ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschränkt? Warum können manche Menschen so wenig aus ihren grundsätzlich am Anfang des Lebens vorhandenen Möglichkeiten machen?

Vielleicht sind wir jetzt zum ersten Mal in der Geschichte an den Punkt gekommen, an dem wir diese Umstände erklären und damit auch mehr Einfluss auf unsere individuellen Entwicklungswege nehmen können.

Die Hirnforschung gibt uns einige Hinweise darauf, wie es möglich ist, unser riesiges Potenzial besser zu erhalten und auszunutzen. Begeisterung für Neues ist das Eine. Aber weitere wichtige Elemente müssen hinzutreten, um Lernen zu ermöglichen. Zum Beispiel: Man kann sich nur schwer alleine begeistern. Viel besser geht es, wenn man das zusammen mit anderen Menschen tun kann.

Aber dazu müssten wir uns bewusst machen, was für uns Menschen wirklich so bedeutsam ist, dass wir uns dafür begeistern. Das sind vornehmlich zwei Bedürfnisse. Diese bringen sie bereits auf die Welt mit, weil sie in der vorgeburtlichen Zeit im Mutterleib zwei Erfahrungen gemacht haben, die auf das Engste miteinander verbunden sind. Die eine dieser Erfahrungen, die sehr tief im Hirn verankert sind, ist das Gefühl, dazuzugehören. Das Neugeborene hat deshalb die Erwartung, auch außerhalb des Mutterleibes aufgehoben und beschützt zu sein. Diesem Anspruch müssen die sorgenden Erwachsenen, muss die Familie genügen.

Die andere Erfahrung, die Neugeborene ebenfalls mit in die Welt bringen, ist das Über-sich-Hinauswachsen. Schließlich hat das Gehirn gelernt, wie sich der Körper des Kindes im Mutterleib entwickelte und wie es selbst sich mitentwickelte. Das Hirn, das genau zu diesem Körper passt, weiß: Es ist möglich, zu wachsen. Letztlich beschreiben diese vorgeburtlichen Erfahrungen die beiden großen Sehnsüchte, die unser Leben immer bestimmen: den Wunsch, geborgen zu sein, und den Wunsch, zu wachsen, selbstständig zu werden, autonom und frei zu sein. Der eigene Körper spielt bei Kindern eine ganz entscheidende Rolle. Er beeinflusst, was für jedes Kind am Anfang des Lebens wichtig ist, er beeinflusst, was oben im Hirn ankommt und was dort passiert. Deshalb begeistern sich Kinder auch so sehr, wenn es ihnen Schritt für Schritt gelingt, ihren eigenen Körper kennenzulernen, ihn immer besser selbst zu bewegen, zu lenken und zu steuern, um ihn schließlich am Ende ihres Entwicklungsweges zu beherrschen. Dann kann das Kind sich drehen, wenn es will, krabbeln, wenn es will, laufen, rennen, klettern, schwimmen oder Rad fahren. Und alles lernt es mit Begeisterung. Jedenfalls solange es von niemand daran gehindert und von niemand dazu gezwungen wird.

Und natürlich wird die Begeisterung an der Entdeckung des eigenen Körpers noch einmal zusätzlich verstärkt, wenn jemand da ist, der sich auch mit darüber freut, wenn wieder eine komplizierte Bewegung gelungen ist, wenn ein schwieriges Wort richtig ausgesprochen, ein Ton beim Singen genau getroffen worden ist. Denn auch das Sprechen und Singen ist Entdeckung des eigenen Körpers, in diesem Fall seiner Fähigkeit zur Lauterzeugung. Nichts aber unterdrückt die angeborene Lust am Entdecken des eigenen Körpers so nachhaltig wie eine Abwertung oder gar Beschämung durch eine emotional nahe stehende, besonders wichtige Person.

Und damit ist wiederum das Andere benannt, das Kindern am Anfang ihres Lebensweges so ungeheuer wichtig ist. Sie sind bereit, alles ihnen Mögliche zu tun und alle anderen Bedürfnisse zu unterdrücken, wenn ihnen dafür geschenkt wird, was sie mehr als andere brauchen, um leben, um wachsen, um die in ihnen angelegten Potenziale entfalten zu können: Zuneigung, Nähe, Verbundenheit.

Eine Sicherheit bietende Beziehung nennen das die Entwicklungspsychologen, und weshalb die nicht nur für Kinder so wichtig ist, wissen die Stressforscher inzwischen sehr gut. Ohne dieses Gefühl von Verbundenheit und Zugehörigkeit fühlen sich auch noch Erwachsene, aber in noch viel existztenzieller Weise kleine Kinder allein gelassen, verunsichert, ohnmächtig und hilflos allen Problemen und Schwierigkeiten des Lebens ausgeliefert. Das beherrschende Gefühl in solchen Situationen ist Angst. Auf körperlicher Ebene kommt es dann zu unkontrollierbaren Stressreaktionen, und an deren Auswirkungen würde ein Kind sterben, wenn es ihm nicht gelänge, eine Lösung zu finden.

Die einfachste, selbstverständliche und nahe liegende Lösung für alle Probleme, die ein Kind noch nicht selbst lösen kann, besteht darin, Hilfe zu holen. Aber um jemand herbeirufen zu können, der einem hilft, muss man jemand haben, der dann auch wirklich kommt, dem man vertrauen kann, mit dem man sich verbunden, bei dem man sich geborgen fühlt. Deshalb, weil sie gar nicht alleine überleben können, gewinnen all jene Menschen, die einem Kind zur Seite stehen und es auf seinem Weg begleiten, so eine ungeheure Bedeutung. Für diese Personen, also für Mama, für Papa, vielleicht auch für Geschwister oder ein anderes Familienmitglied und später für ihre Freunde, sind Kinder bereit, alles zu tun. Jedenfalls solange sie sich mit diesen Personen verbunden fühlen, solange sie noch nicht von ihnen oder durch sie enttäuscht, allein gelassen und abgewertet oder gar beschämt worden sind.

Das passiert allerdings schneller, als man es für möglich hält. Anfangs versucht jedes Kind lieber auf sein eigenes Bedürfnis zu verzichten, um es der Mama, dem Papa oder einem anderen recht zu machen. Jedes Mal, wenn ihm das gelingt und es sich so verhalten hat, wie es einer ihm wichtigen Person gefällt, geht im Hirn des Kindes die Begeisterungs-Gießkanne mit dem Düngerstrahl an, der die dabei aktivierten Netzwerke und Verschaltungen zum Wachsen bringt. So kann ein Kind zu einem Menschen heranreifen, der es später im Leben allen anderen immer nur recht machen will, der womöglich immer dann Angst bekommt, wenn jemand seine als Liebesdienst gemeinten Opfergaben nicht haben will oder braucht.

Bei all jenen Kindern, denen es beim besten Willen nicht gelingt, es der Mama oder dem Papa recht zu machen, geht die Dünger-Gießkanne im Hirn aber zwangsläufig immer dann an, wenn sie es wieder einmal schaffen, sich selbst zu beweisen, dass sie ihre Probleme sehr gut alleine, also ohne Mama, Papa oder sonst wen, zu lösen imstande sind. Dann haben sie es denen, mit denen sie bisher so eng verbunden waren, nun endlich einmal richtig gezeigt. Auch darüber kann man sich als Kind und als Erwachsener später so richtig begeistern. Und dann bekommt man eben auch ein Hirn, mit dem man anderen Menschen immer besser zeigen kann, wie wenig man sie braucht und dass man nichts mit ihnen zu tun haben will. Solche Deformationen kommen zustande, wenn Erwachsene auf die Entwicklungsbedürnisse von Kindern nicht adäquat reagieren.

Zwei Dinge brauchen die Kinder also besonders: das Gefühl der Geborgenheit – das erfüllen die Eltern und die Erwachsenen, wenn das Kind erlebt, dass es so, wie es ist, angenommen wird. Der zweite Wunsch nach Wachstum und Entwicklung kann erfüllt werden, wenn das Kind den dafür nötigen Raum bekommt.

Allzu oft allerdings erleben die Kinder, dass die Eltern an ihnen herumerziehen, sie nicht sehen und sie nicht unterstützen, sondern sie eher im Sinne ihrer eigenen Interessen benutzen wollen. Das können für Kinder sehr leidvolle Erfahrungen sein. Woher wir das wissen? Auch diese Erkenntnis gewinnen wir, wenn wir die Reaktion von Erwachsenen auf bestimmte emotionale Ereignisse im Computertomografen untersuchen.

Ich beschreibe Ihnen ein Beispiel: Versuchspersonen werden über eine Computerbrille verschiedene Situationen vorgespielt, in denen sie als Teammitglieder in einer Mannschaft agieren. Zunächst sind sie in ihrem Team aufgehoben und werden von den anderen als gleichberechtigt akzeptiert. Dann aber bekommen sie plötzlich keinen Ball mehr. Sie sind ausgeschlossen und isoliert, gehören nicht mehr dazu. Wenn die Forscher nun die Gehirne scannen, stellen sie fest, dass dabei genau die Regionen und Netzwerke aktiviert werden, in denen auch körperliche Schmerzen verarbeitet werden.

Der gleiche Prozess läuft beispielsweise bei einem kleinen Jungen ab, der stolz seinen selbst gebauten Turm präsentiert, wenn Papa nach Hause kommt. Wenn der aber antwortet: „Na und? Ich kann einen größeren und schöneren Turm bauen“ – was passiert dann im Hirn seines Sohnes? Der fühlt sich ausgestoßen, isoliert, eben nicht geborgen und unterstützt. Dann ist diese potenzielle Lernsituation misslungen. Statt Begeisterung stellen sich Ohnmacht und Angst ein.

Was bräuchten Kinder also, um ihre Potenziale zu entfalten? Sie brauchen funktionierende Beziehungen zu anderen Menschen – zu Erwachsenen wie Kindern. Und sie benötigen Räume, in denen sie lernen können und Anregungen empfangen. Gruppen, in denen so etwas möglich ist, nennt man in der Psychologie „individualisierte Gemeinschaften“. Familien würden Kindern den richtigen Rahmen bieten, wenn sie diesen Kriterien entsprächen.

Grundsätzlich sind Familien in der Lage, gleichzeitig Geborgenheit und Raum für Entwicklung zu bieten. Wenn beides gegeben ist, können sich die Kinder einbringen und an gemeinsamen Zielen orientieren.

Leider sind Familien aber oft eher aufgebaut wie Ameisenstaaten – hierarchisch durchstrukturiert von oben nach unten. Oder sie verhalten sich wie Schwärme, die rastlos hin und her pulsieren. Eine funktionierende Familie muss jedoch zeigen, dass jeder gebraucht wird, dass man Dinge gemeinsam wollen und auch schaffen kann. Kinder sollten den Eindruck bekommen, dass sie zum Gelingen des Ganzen beitragen können.

In Gemeinschaften, in denen wechselseitige Aufmerksamkeit fehlt, können Kinder bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht erlernen. Als Beispiele für Familien, die nicht gut funktionieren, möchte ich eine alleinerziehende Mutter anführen, die eine schwere Geburt hinter sich haben mag oder unter einer ernsten Krankheit gelitten hat. Aufgrund solcher oder anderer Vorkommnisse kann es passieren, dass Mutter und Kind in einer unheilvollen personalen Beziehung gefangen sind. Diese kann beiden Personen Entwicklungsmöglichkeiten verschließen und verhindern, dass Mutter und Kind die Welt unverstellt wahrnehmen. Manchmal ist es nicht gut, wenn ein Kind seiner Mutter ausgeliefert ist. Dann sollten andere Personen dazukommen, ein Mann, der Bruder, ein Onkel. Aber wie machen wir das? Die alten Großfamilien gibt es ja nicht mehr. Wie können neue Formen der Familien aussehen? Eine abschließende Antwort vermag ich Ihnen nicht zu geben. Dieses ist ein unbekanntes Territorium, in das wir uns gemeinsam vortasten müssen.

Einige Schritte auf dem Weg in eine neue Lern- und Entwicklungskultur in Städten und Gemeinden haben wir allerdings gemeinsam mit dem Kultusministerium von Thüringen unternommen. Das zugrunde liegende Motiv ist leicht nachzuvollziehen: Wenn Kinder einer Gemeinde Möglichkeiten vorfinden, gemeinsam etwas aufzubauen, machen sie die Erfahrung, dass sie dort beheimatet sind. Eine neue kommunale Erlebniskultur in Städten, Stadtteilen und Dörfern kann dazu beitragen, dass Kinder die Welt selbst entdecken. Erwachsene und Kinder fühlen sich dann gemeinsam verantwortlich für ihre Umgebung. Das Programm kann man interpretieren als Umsetzung eines afrikanischen Sprichwortes. Dieses lautet: „Um Kinder aufzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf.“ In der Vergangenheit hat dies in Form von Großfamilien auch bei uns manchmal stattgefunden. Nun müssen wir versuchen, diese Leistung unter modernen Umständen erneut zu erbringen.

Im Rahmen unseres Konzepts, das wir mittlerweile in einem guten Dutzend von Gemeinden Thüringens praktizieren, betrachten wir die jeweilige Kommune als Gemeinschaft. Durch die Zusammenarbeit von Schulen, Stadtverwaltung, Initiativen, Bürgern und Vereinen sollen die Kinder das Gefühl bekommen, in ihrer Umgebung aufgehoben zu sein und zu ihren Nachbarn in einer festen und sicheren Beziehung zu stehen. Wichtig ist, dass die Kinder merken, wie die Gemeinschaft sie mit Fürsorge und Aufmerksamkeit umgibt. Außerdem geht es darum, spannende Entwicklungs- und Aktivitätsmöglichkeiten zu bieten, die gemeinsame Lernprozesse in Gang setzen.

In dem Familienverband, in dem ich aufgewachsen bin, geschah so etwas täglich – aber unausgesprochen und urwüchsig. Das Gefühl des Aufgehobenseins und gemeinsame Aktivitäten dienten dem Funktionieren der Gemeinschaft. Wenn wir nicht im Sommer gemeinsam Holz aus dem Wald geholt hätten, wären die Öfen im Winter kalt geblieben und wir hätten gefroren. Das nenne ich „shared attention“ – geteilte Aufmerksamkeit. Heute dagegen wissen Eltern und Kinder oftmals nicht mehr, was sie gemeinsam miteinander anfangen können.

Gleichzeitig frei zu sein und zu jemand dazuzugehören: Das nennt man Liebe. Es ist die Gewissheit, dass ich von den anderen angenommen werde, so wie ich bin, um mich bestmöglich entwickeln zu können. Das funktioniert in einer individualisierten Gemeinschaft. Das kann eine Familie sein, eine Kommune oder eine andere Form verbindlichen sozialen Zusammenhalts.

Meine These ist: Es hat keinen Sinn, die alte Familie wieder zurückholen zu wollen. Es muss auch nicht unbedingt um alternative Familienformen gehen. Wir sollten auch nach neuen kommunalen und gesellschaftlichen Strukturen suchen, die eine unterstützende Beziehungskultur ermöglichen.

Auch Unternehmen müssten diese Erkenntnisse ernst nehmen. Denn sie brauchen künftig Mitarbeiter, die empathiefähig sind, die mitdenken, die lernen und sich entwickeln, die an den gemeinsamen Zielen arbeiten. Das gelingt umso besser, je mehr der unternehmerische Rahmen auch Geborgenheit, Freiraum und Begeisterung ermöglicht.